Stunden bevor die ersten Wahllokale am Freitagmorgen öffneten, standen die Menschen Schlange, um ihre Stimme abzugeben. Eine Supermacht wählt. Der Sieger wird ein schwer selbstbewusster Nationalist im Rentenalter sein, der seinen Anhängern das Paradies auf Erden verspricht und Andersdenkende verachtet. Nein, die Rede ist nicht von den USA. Es geht um Indien. Und damit um die vermutlich eine der wichtigsten, meistignorierte Wahlen der Welt.
Wobei "Wahl" in dem Fall ein dehnbarer Begriff ist – schließlich steht im Grunde schon fest, wer die absolute Mehrheit abräumt. Die Frage ist, was Narendra Modi, der alte/neue Premierminister und Kultführer damit anstellt.

So laufen die Wahlen in Indien ab
Wer wählt wann?
Es ist die größte demokratische Wahl der Geschichte: In rund eine Million Wahllokale strömen seit Freitag für sechs Wochen insgesamt bis zu 970 Millionen Stimmberechtigte – mehr Menschen als in den USA, in der EU und Russland leben. Zusammengenommen.
Die Wahlbeteiligung ist hoch, vor fünf Jahren wurde ein indischer Rekord von 67 Prozent erzielt. Dass das so bleibt, dafür sollen rund 15 Millionen Wahlhelfer sorgen, die laut CNN per Auto, Boot, Zug, Hubschrauber und Kamel unterwegs sein werden.
Insgesamt 44 Tage dauert der Demokratiemarathon. Das teure Spektakel (2019 haben die Wahlen 8,5 Milliarden US-Dollar gekostet) findet in sieben Phasen, an jeweils einzelnen Tagen in den Bundesstaaten und Unionsterritorien statt. Am 4. Juni soll dann feststehen, wer von den rund 8000 Bewerbern die 543 freien Parlamentssitze im Unterhaus, der Lok Sabha, erhält. Danach beauftragt Präsidentin Draupadi Murmu die siegreiche Koalition, die mindestens 272 Mandate ergattern konnte, mit der Regierungsbildung. Die stärkste Kraft stellt den Premierminister.
Wer tritt an?
Seit zehn Jahren regiert die als Nationale Demokratische Allianz (NDA) bekannte Koalition unter Führung der Indischen Volkspartei BJP (Bharatiya Janata Party), der eigenen Angaben nach "größten politische Partei der Welt". An der Spitze: Hindu-Nationalist Narendra Modi.
Der einzig nennenswerte nationale Konkurrent ist der Indische Nationalkongress, dessen Establishment das Land über Jahrzehnte lenkte. "Der Kongress", wie die Partei im Volksmund genannt wird, musste bei den vergangenen zwei Wahlen (2014 und 2019) allerdings heftige Niederlagen einstecken. Um das traurige Triple zu vermeiden, bildet er dieses Mal ein Bündnis mit mehr als einem Dutzend regionalen Parteien. Der Zusammenschluss trägt den sperrigen Namen Indian National Developmental Inclusive Alliance trägt – oder weniger sperrig: INDIA. Das Wahlkampfmotto: "Rettet die Demokratie!" Das Zweckbündnis stand aber schon vor Wahlbeginn auf wackeligen Beinen, zu viele unterschiedliche Interessen. Eine Art indische Hardcore-Ampel.
Und so werben am Ende zwar mehr als 2600 Parteien um die Gunst der Wähler – der Gewinner steht aber bereits fest.
Der Hindu-Fürst und seine Bollygarchen
Nie war ein indischer Regierungschef so mächtig, nie weniger auf Kompromisse angewiesen. Zwar regiert seine BJP bereits mit absoluter Mehrheit. Doch Modi will mehr, mehr, mehr. Diesmal sollen es mindestens 400 Parlamentssitze werden – ein entscheidender Schritt auf dem Weg, die Verfassung zu ändern. Als Sprössling der hindu-faschistischen Organisation RSS folgt er der sogenannten Hindutva-Ideologie: Aus dem Staat der vielen Völker, Sprachen und vor allem Religionen, will er eine Einheitsnation unter der politisch-kulturellen Herrschaft der hinduistischen Mehrheit formen.
Dass ihm das gelingt, ist trotz wachsender Unzufriedenheit, vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten, kein Wunschtraum. Die Masse hört und sieht, was ihr die Modi-Clique vorsetzt. Im aktuellen Pressefreiheits-Ranking von Reporter Ohne Grenzen, rangiert Indien auf Platz 161 von 180, noch hinter gescheiterten Staaten wie Libyen oder Afghanistan. Immer wieder werden die Social-Media-Konten regierungskritischer Journalisten gesperrt oder ihre Wohnungen durchsucht. Wer Modi allzu scharf angeht, darf sich auf Behördenbesuche freuen – ausländische Medien nicht ausgenommen, wie die BBC vergangenes Jahr erfahren durfte.
In seinen zehn Jahren an der Macht hat Modi Berichten zufolge nicht eine einzige Pressekonferenz abgehalten, seine Freunde redigieren Negativschlagzeilen weg. Allen voran Medienimperator Mukesh Ambani, der reichste Mann Asiens. Medien zufolge fiel der letzte unabhängige Sender 2022 an einen Modi-freundlichen "Bollygarchen". Seine hyperreichen Kumpel haben es dem Premier ermöglicht, einen regelrechten Personenkult um sich herum aufzubauen. Das Götzenbild: Modi, als strenger, aber fürsorglicher Vater der Nation. Doch der macht kein Geheimnis daraus, wer seine Lieblingskinder sind – und vor allem, wer nicht.
Muslime in Indien – 200 Millionen schwarze Schafe
Der Islam stellt die größte religiöse Minderheit im Land. Rund 14 Prozent der Inder sind Muslime, immerhin fast 200 Millionen Menschen. Trotzdem stehen sie für Modi nicht einmal an zweiter Stelle. Seine BJP-Kumpanen beschimpfen Muslime inzwischen offen als "Verräter an der Nation". Dieser staatlich subventionierte Hass ist auch im Alltag zu spüren.
Nach Modis Hindi-First-Doktrin wurden Städte mit muslimischen Namen umbenannt, Denkmäler geschleift, Geschichtsbücher umgeschrieben und sogar der einzig mehrheitlich muslimische Bundesstaat Kaschmir der Sonderstatus aberkannt und entzweigerissen. Auch die Zahl der Lynchmorde durch bewaffnete Mobs hat Medienberichten zufolge drastisch zugenommen.
Zuletzt machte die Verabschiedung eines neuen Einwanderungsgesetzes Schlagzeilen. Demnach soll es für Menschen, die in Pakistan, Bangladesch oder Afghanistan einer religiösen Minderheit angehören, einfacher werden, die indische Staatsbürgerschaft zu beantragen – solange sie keine Muslime sind. Zeitgleich sollen De-Facto-Inder ohne Papiere schneller ausgewiesen werden können. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass sich arme Muslime, die teils seit Generationen in und vor allem auf dem Land leben, nicht ausweisen können. Ein Teufelskreis: Erst werden sie zu Staatenlosen, dann dürfen sie keine Staatsbürgerschaft beantragen.
Modis einsamer Weg nach oben
Dass in Indien die Grenzen zwischen Gevatter Staat und Staatsvater verschwimmen, dafür gibt es gute Gründe. Laut einer Umfrage des US-amerikanischen Pew Research Center bevorzugen 85 Prozent der Inder eine autokratische Herrschaft. Und es ist nicht so, als müsse Modi Konkurrenz fürchten.
Bevorstehende Namensänderung: Diese Länder haben sich schon umbenannt

Der einzige "Widersacher" hört auf den Namen Rahul Gandhi. Der ist zwar nicht der Vorsitzende, aber das Gesicht der größten Oppositionspartei, des Indischen Kongresses. Der attraktive Mitfünfziger hat mit seinem ungleich bekannterem Namensvetter Mahatma zwar weniger zu tun als der seinerzeit mit Völlerei, ist aber immerhin der Urenkel von Indiens erstem Premier Jawaharlal Nehru. Als Resultat des jahrzehntelangen Nepotismus steht Gandhi das vermeintliche Besser-Sein ins Gesicht geschrieben. Als Kind des Polit-Establishments wirkt er aus der Zeit gefallen. Selbst wenn es um ein Kopf-an-Kopf-Rennen ginge, hätte er keine Chance gegen den rhetorisch überlegenen, massentauglichen Modi und seinen Großvater-Charme.

Zuletzt hatte der oppositionelle INDIA-Block den Wahlkampf zwischenzeitlich sogar aussetzen müssen. Modi hatte die Gelder seiner Gegner eingefroren – wegen angeblicher Steuerhinterziehung. Wie der "Indian Express" schreibt, sollen sich seit Modis Regentschaft 95 Prozent der Untersuchungen des Enforcement Directorate, einer Behörde, die gegen Finanzverbrechen vorgehen soll, gegen die Opposition gerichtet haben. Berichten zufolge wurden Korruptionsermittlungen gegen 23 von 25 Oppositionspolitikern eingestellt, nachdem sie zur BJP übergelaufen waren.
Im Grunde steht Indien "ein Referendum über Modis Führung in den letzten zehn Jahren" bevor, fasst es Milan Vaishnav, Direktor des Südasienprogramms der Carnegie-Stiftung gegenüber der "Japan Times" zusammen. Spielt der Subkontinent also nur noch Demokratie? Oder tat er das schon immer? "Die indische Demokratie war in erster Linie ein Gentlemen's Agreement. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hatten damit nichts zu tun", zitiert "Unherd" den indischen Ökonomen Pranab Bardhan.
Spätestens, wenn sich am 4. Juni der Staub gelegt hat, dürfte Indiens Transformationen abgeschlossen sein: von der größten Demokratie zur größten Wahlautokratie der Welt.
Weitere Quellen: "Council on Foreign Relations"; "Unherd"; "Conversation"; "Foreign Affairs"; "Japan Times"; "Time Magazine"; CNN