Irak Wählen unter Lebensgefahr

Von Christoph Reuter, Bagdad
Zu den Wahlen im Irak haben die Aufständischen eine beispiellose Terrorwelle angekündigt. Die Regierung will mit Ausgangssperren und einem gewaltigen Aufgebot von Sicherheitskräften Wähler und Wahllokale schützen.

"Ab wann genau werden wir erschossen?" Der Rezeptionist im Hamra-Hotel im Süden Bagdads pflegt einen nicht ganz unangebrachten Zynismus. Denn eigentlich sollte es dieser Tage in Bagdad um Wahlen gehen, um Kandidaten, Programme, eine Verfassung, kurz: die Zukunft.

Tatsächlich geht es den meisten Bagdadis vor allem darum: Wie überleben wir den Sonntag? Die Aufständischen haben angekündigt, dass jeder Wähler des Todes sei – woraufhin die Regierung nicht nur das bislang größte Aufgebot an Polizei und Nationalgarde zum Schutz der Wahllokale und Wege dorthin mobilisiert hat, sondern für Samstag und Sonntag, den Wahltag, eine komplette Ausgangssperre verhängt hat. Schon seit heute, Freitag, darf niemand mehr auf den Überlandstraßen unterwegs sein, und ab Samstag heißt es auch für die fünf Millionen Bagdadis, zu Fuß zu gehen.

Seit Tagen existiert überdies ein Nachtfahrverbot, dessen Beginn allerdings niemand so genau kennt. 19 Uhr? 20 Uhr? 21 Uhr? Und so fragt der Rezeptionist, gegen 18.40 Uhr um ein Taxi gebeten, erst einmal den Fahrdienst des Hotels, ab wann genau die Straßen gesperrt seien. Aus gutem Grund: Vor einer Woche wurden in der Nachbarschaft zwei Zivilisten im Auto von US-Truppen erschossen, weil sie eine Warteschlange vor der Tankstelle überholten.

Partei-Programme interessieren die Iraker nicht

Es gibt Wahlen im Irak, die erste freie Abstimmung seit einem halben Jahrhundert - aber was die Iraker am wenigstens interessiert, sind die Programme der Parteien, zumal die meisten eh keines haben. Zumal die irakische Regierung von Washingtons Gnaden sowie die offiziell "unabhängige Wahlkommission" um jeden Preis verhindern wollen, dass das fragmentierte Land weiter auseinanderdriftet und nur Listenverbindungen zur Kandidatur für das 275-Sitze-Parlament zugelassen haben, zu denen sich oft ein breites Spektrum von Parteien zusammengefunden hat. So finden sich in der vermutlich erfolgversprechendsten Verbindung der „Irakischen Vereinten Koalition“ gemäßigte Schiiten, der Ex-Lieblingsiraker des Pentagon, Ahmed Challabi, sowie Vertreter der Radikalenbewegung Muqtada as-Sadrs, der offiziell die Wahlen boykottiert. In anderen Listen treten Sunniten und Schiiten gemeinsam an, insgesamt stehen immer noch weit über 100 Listen zur Wahl.

Wer die zur Wahl stehenden Kandidaten sind, haben viele Iraker auch erst in den letzen Tagen erfahren, und auch das nur unvollständig: So hat eine kommunistische Liste sich geweigert, die Namen ihrer Kandidaten bekannt zu geben - zu gefährlich. Auch öffentliche Auftritte hat fast niemand absolviert, es bleibt bei Plakaten und Handzetteln. So verwirrend ist die Zahl der Listen und sind ihre Namen aus den Bausteinen "irakisch", "demokratisch", "vereint", "national", dass die meisten Bagdadis dazu übergegangen sind, nur noch die per Los verteilten Registrierungsnummern zu erwähnen: 285 etwa ist die Liste des Premiers Eyad Allawi, dessen Programm im wesentlichen darin besteht, wieder "Sicherheit und Ordnung" herzustellen "nicht mit der Brutalität, aber der Härte des alten Regimes". 169 ist die große Schiitenliste, von der ihre Kandidaten und viele Prediger behaupten, sie habe die Unterstützung des extrem einflussreichen Großayatollah Sistani – der selbst mit keiner Silbe dazu Stellung genommen hat. "Aber erkennst du nicht das Zeichen des Göttlichen in dieser Nummer", beschwört mich Marwan, ein schiitischer Gemüsehändler in der Karrada Joua, der Haupteinkausstraße für Lebensmittel: "Nimm die Quersumme!"

Er wartet gespannt. "16", sage ich ratlos. "Nochmal!", beharrt er. "7." Er strahlt. "Siehst du?! Die Nummer des Glücks!" Er werde, und da sei er sich mit vielen Glaubensbrüdern einig, Liste Nr. 169 wählen. Wenn er das nicht tue, muss sich ohnehin auf ewige Verdammnis gefasst machen: "Wer die Irakische Vereinte Koalition nicht wählt", so der Prediger Dschalal ad-din al-Sariir in seiner Predigt in der Bagdader Boratha-Moschee am vergangenen Freitag, "der sollte sich darauf einstellen, am Tag des jüngsten Gerichts vor Gott darüber Rechenschaft abzulegen!"

Schiiten wollen die Macht

Denn die Schiiten, mit rund 60 Prozent die Bevölkerungsmehrheit, verspricht sich von diesen Wahlen zu recht den ersten Schritt der Machtübernahme im Irak. Die Sunniten, seit Jahrhunderten die Herrscher am Tigris, können mit rund 20 Prozent der Wahlberechtigten, nur verlieren. Insofern versprechen sunnitische Prediger wiederum jedem ewige Verdammnis, der sich an den Wahlen beteiligt. Was dazu führen wird, dass in den homogenen Schiiten-Gebieten im Süden - wo die Lage eh sehr viel ruhiger ist - und in den kurdischen Nordprovinzen die Wahlbeteiligung bei 80 Prozent und mehr liegen dürfte. Während in sunnitischen Städten und Vierteln kaum jemand mit mehr als 5 - 10 Prozent rechnet.

Den TV-Teams ist es untersagt worden, die Gesichter von Wählern zu filmen, ohnehin dürfen Fotografen am Wahlsonntag nur zu vier ausgewählten Wahllokalen in Bagdad gehen. Allein Bagdad sind bislang 13 Schulen, wo die Wahllokale eingerichtet werden sollen, angegriffen und zum Teil zerstört worden. "Ich finde die Wahlen ja im Prinzip richtig", erklärt Emad Salih, ein Übersetzer aus der Bagdader Sunnitenhochburg Adhamiya: "Aber ich habe meiner Familie strengstens verboten, wählen zu gehen. Wenn uns da einer sehen würde - das wäre lebensgefährlich!"