ISRAEL Blutlachen, Leichenteile, Panik

Wochenend-Bilanz: Mindestens 26 Israelis und sechs Palästinenser wurden getötet, es gab zahllose Verletzte. Die plästinensiche Autonomiebehörde rief den Ausnahmezustand aus.

Ein zweifacher Selbstmordanschlag im Herzen Jerusalems, ein Attentat auf einen Bus in Haifa und eine Schießerei im Gazastreifen, insgesamt mindestens 26 israelische Todesopfer binnen zwölf Sunden: Eine beispiellose Serie palästinensischer Gewalttaten hat am Sonntag unabsehbare Folgen für die gesamte Nahostregion heraufbeschworen. Die palästinensische Autonomiebehörde rief nach einer Krisensitzung den Ausnahmezustand aus. Der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon verkürzte seinen USA-Besuch.

Während des Hochbetriebs

Die matt beleuchtete Bar war vollbesetzt, die Rockmusik dröhnte und Koch Janai Sapir warf gut gelaunt Shrimps in einen Wok. Dann erschütterten plötzlich zwei Explosionen einen Häuserblock entfernt das »Sansibar«. Gäste wurden von den Stühlen gerissen, Glasscheiben zerbrachen. Zwei Palästinenser hatten sich unter die jungen Leute gemischt, die Samstagnacht scharenweise in der größten Fußgängerzone Jerusalems bummelten. Es war 22.30 Uhr, Hochbetrieb im Cafe-Bezirk. Sie zündeten, 30 Meter entfernt voneinander stehend, ihre mit Nägeln und Metallteilen gefüllten Sprengsätze und rissen mit sich zehn Israelis in den Tod. 150 weitere wurden nach Angaben der Behörden verletzt, einige lebensgefährlich.

»Orangefarbener Blitz«

Der 20-jährige Nir Ledani war mit Freunden unterwegs, als er von einem Metallsplitter und Nagel der explodierenden Sprengsätze in der Schulter getroffen wurde. »Ich hörte das Geräusch einer Sicherung«, sagt er eine Stunde später im Krankenhaus. »Dann hörte ich einen Knall und sah eine großen, orangenfarbenen Blitz.« Metallsplitter und Nägel sollten die tödliche Wirkung der Sprengsätze verstärken. Auf der Straße bot sich nach den Explosionen ein Bild des Grauens. Auf Glasscherben und in Blutlachen lagen Körperteile, Fleischfetzen, Tote und Verletzte. Das Blut spritzte bis zum zweiten Stock umliegender Gebäude. Überall lagen Metallsplitter, Nägel und Schrauben herum.

Danach kam Autobombe

Kurz nach den beiden Detonationen ein weiterer Schock: Ein vor einem Eiscafe geparktes Auto flog in die Luft. Die Polizei vermutete, dass durch die später gezündete Autobombe die Rettungskräfte getroffen werden sollten. Unter den Überlebenden der beiden ersten Explosionen brach erneut Panik aus, Menschen liefen in allen Richtungen davon. Ihnen entgegen kam der 17-jährige Eliashiw Cohen, der Überlebenden der ersten Explosionen helfen wollte. »Ich hatte auf dem Weg viele Flaschen Mineralwasser gekauft, um sie den Leuten zu geben und sie zu beruhigen«, sagte Cohen. Dann explodierte die Autobombe - »und so etwas wie ein Motorteil oder andere Autoteile flogen mir entgegen und trafen mich am Kopf. Ich erinnere mich, dass es schwarz war. Ich brach zusammen und das ist das letzte woran ich mich erinnere, bevor ich im Krankenhaus wieder aufwachte.«

Alle Strassen der Innenstadt gesperrt

Einige Leute brachen zusammen und erlitten Weinkrämpfe, als die Polizei versuchte, das Gebiet abzusperren und nach weiteren Sprengsätzen zu suchen. Rettungsmannschaften versorgten die Verwundeten und brachten sie in Krankenhäuser. Alle Straßen, die in das Herz der Innenstadt führen, wurden gesperrt, darunter auch die Hauptverkehrsschlagader der Stadt, die Jaffa-Straße.

Terror ohne Ende

Im »Sansibar« saßen noch die konsternierten Angestellten. Sie wagten es nicht, hinauszugehen, und sahen sich die schrecklichen Bilder im Fernsehen an. »Man sieht kein Ende von all dem«, sagte der 24-jährige Sapir. »Das ist Terror. Man weiß nie, wo es geschehen wird.« Das alles erinnere ihn an ein israelisches Theaterstück, »in dem es einen Spirale der Gewalt gibt, in der rachsüchtige Menschen immer die falschen umbringen«. Sapir hält einen Moment inne und sagt: »Es ist einfach absurd.«

Bei Routineuntersuchung nichts gefunden

Wie der israelische Rundfunk berichtete, erhielt die Polizei eines Vororts von Jerusalem eine halbe Stunde vor dem Attentat eine anonyme Warnung. Bei einer Routineuntersuchung habe man jedoch nichts Verdächtiges gefunden, sagte ein Sprecher. »Wir erhalten täglich Dutzende solcher Hinweise«, meinte er.

Ausweisung Arafats gefordert

Ein ranghoher Mitarbeiter im Außenministerium, Gideon Meir, sagte, es stehe außer Frage, »dass es eine Änderung in unserer Politik geben wird, weil diese Massaker aufhören müssen«. Entscheidungen sollen nach der Rückkehr Scharons aus den USA getroffen werden. Dieser wollte noch mit US-Präsident George W. Bush zusammenkommen, der Präsident Jassir Arafat in scharfer Form zur Bekämpfung des Terrorismus aufforderte. Kabinettsminister Avigdor Lieberman forderte ein hartes Vorgehen gegen die Autonomiebehörde bis hin zur Ausweisung Arafats aus der Region und der Zerschlagung seiner Behörde.

Ächtung der militanten Gruppen

Arafats Behörde verurteilte mit »tiefem Schmerz und großem Zorn« die Anschläge und warf deren Hintermännern vor, die jüngste US-Friedensinitiative vereiteln zu wollen. Nach einer Krisensitzung rief das Kabinett den Ausnahmezustand aus und erklärte, alle militanten Gruppen sollten sich als geächtet betrachten.

Hamas bekannte sich

Die Hamas übernahm die Verantwortung für die Anschläge: »Das palästinensische Volk ist unerbittlich in der Fortsetzung seines Widerstands, bis hin zur Niederlage der Besatzer, ungeachtet des Preises«, sagte ein hoher Hamas-Funktionär im Gazastreifen, Abdel Asis Rantissi.

Doppeltes Selbstmord-Attentat

Bei dem Anschlag im Herzen Jerusalems zündeten die beiden Selbstmordattentäter gegen 23.30 Uhr Ortszeit ihre mit Nägeln, Schrauben und Metallsplittern gefüllten Sprengsätze in der Ben-Jehuda-Passage - einer Flaniermeile mit vielen Bars und Cafes. Die beiden 30 Meter voneinander entfernt gezündeten Bomben richteten ein Blutbad an: Zehn junge Israelis im Alter zwischen 14 und 20 Jahren rissen sie mit sich in den Tod. Die Detonationen zerrissen Menschen; der Tatort bot ein Bild unbeschreiblichen Grauens. Kurz darauf explodierte eine Autobombe und löste erneute Panik aus. Mehr als 150 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.

Passage war schon einmal Ziel

Aus palästinensischen Sicherheitskreisen verlautete, die Attentäter stammten aus dem Dorf Abu Dis bei Jerusalem. Einer habe der Hamas nahe gestanden, der andere sei kürzlich aus den Sicherheitskräften ausgeschieden. Israelische Sicherheitskräfte nahmen nach palästinensischen Angaben am Sonntag in Abu Dis neun Verwandte der Täter fest. Die Ben-Jehuda-Passage war wiederholt Ziel von Selbstmordanschlägen. Anfang August waren in einer nahe gelegenen Pizzeria 16 Menschen getötet worden. Der US-Vermittler Anthony Zinni legte einen Kranz in der Passage nieder und sprach von der »schlimmsten Untat, die man sich vorstellen kann, junge Menschen, Kinder, anzugreifen«.

16 Tote bei Selbstmordanschlag in Haifa

Beim zweiten palästinensischen Selbstmordanschlag innerhalb von zwölf Stunden wurden dann am Sonntagmittag in Haifa neben dem Attentäter mindestens 15 Menschen getötet. Der Palästinenser zündete seinen Sprengsatz in einem Bus, wie ein Polizeisprecher mitteilte. Mindestens 40 Menschen wurden verletzt, 15 von ihnen schwer.

Chaos auch in Gazastreifen

Im Gazastreifen eröffneten zwei Palästinenser das Feuer auf israelische Autos. Ein Israeli wurde getötet und fünf weitere verletzt, bevor die beiden Täter von Soldaten erschossen wurden. In Ostjerusalem erschoss der Wachmann einer Bank laut Polizeiangaben einen Palästinenser.

Die USA, die EU und die Bundesregierung verurteilten die Anschläge in scharfer Form und forderten Arafat auf, die Verantwortlichen festzunehmen.

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