Es ist sonnig in Istanbul, ein klarer, heller Wintertag. Die Luft ist frisch, die Leute sind draußen, in den Cafés, am Bosporus. So ein Tag, an dem diese Stadt verzaubern kann.
Später gehen sie in die Bars, in die Clubs, der letzte Terroranschlag ist fast ein halbes Jahr her - kein Mensch bleibt ein halbes Jahr zu Hause. Menschen wollen wieder leben. Menschen können verdrängen. Oder rechnen: Ist es nicht viel wahrscheinlicher, im Taxi bei einem Verkehrsunfall zu sterben als durch eine Bombe?
Tausende gehen ins Fußballstadion an diesem Samstagabend, Besiktas spielt, die Metro ist voll, in der ganzen Innenstadt ist Stau. Alles ist normal. Bis halb elf, bis zum ersten Knall. Dann ein zweiter, und dann die Sirenen. Irgendwas ist passiert. Auf Twitter schreiben sie: Habt ihr das auch gehört?
Der fünfte Anschlag in diesem Jahr
Routinen haben sich gebildet in diesem Jahr, es ist seit Januar der fünfte Anschlag. Man sitzt zusammen mit Freunden, alle sehen auf Twitter dieselben ersten Amateurbilder vom Tatort, alle mutmaßen: sieht nach einer großen Bombe aus, sieht aus, als würde es Tote geben; offenbar sind die Toten Polizisten, deutet auf kurdische Täter hin; wäre es der IS gewesen, wären jetzt viele Besiktas-Fans tot.
So redet man gegen elf Uhr, nach einem Abendessen mit Freunden, man weiß wenig, aber man kommentiert und ordnet ein, man mutmaßt. Man will sich einen Reim auf die Dinge machen, man will irgendetwas sagen und abgeklärt wirken. Während man denkt: Scheiße, nein, nicht schon wieder.
Denn in Wahrheit gewöhnt man sich nicht an den Gedanken, dass im Moment des Knalls Menschen gestorben sind, man gewöhnt sich nicht an die Vorstellung: Dass die Körper von Menschen auseinandergerissen werden, dass sich Knochen lösen. Dass Schwerverletzte in dem Trümmerfeld liegen, schreiend und einige Momente lang ganz allein.
Dass all das an einem Ort passiert ist, an dem man schon oft war, und entlang der Route, die man später im Taxi nach Hause gefahren wäre. Dass jemand auf Twitter um Hilfe bittet, weil ihr Freund in der Nähe der Explosion war und sich nicht meldet – bis andere Twitternutzer den Freund tatsächlich in einem Krankenhaus-OP ausfindig machen.
Dass da jemand beschlossen hat, an diesem Abend hier in Istanbul mit seinem Leben Schluss zu machen, damit andere mit ihm sterben. Wenn man den Knall gehört hat, dann ist das nicht mehr bloß eine Nachricht, sondern es geht einem nahe. Man spürt den Irrsinn.
Und dann verdrängt man, wie alle es tun. Trinkt noch einen Rotwein, sucht noch ein anderes Gesprächsthema, und irgendwann fährt man mit dem Taxi eine andere Route nach Hause.
Menschen in Istanbul werden nicht paranoid
Oft wurde geschrieben, die Menschen in der Türkei würden sich zwingen weiterzumachen, weiterzuleben trotz des Terrors. Das ist nicht ganz richtig, sie müssen sich nicht zwingen. Sie tun es einfach. Terror kann nur gewinnen, wenn die Gesellschaft es zulässt.
Die Türken haben sich einen Umgang mit dem Terror erarbeitet: Sie hassen ihn, aber sie lassen sich nicht von ihm bestimmen. Die Gefahr ist hier viel größer als Europa, sie ist real, aber kaum jemand ist deswegen paranoid geworden. Wie die Türken mit der Gefahr umgehen, im Privaten, in ihrem persönlichen Leben, das wirkt sehr rational.
An so einem Samstagabend ist der Terror grausam, daran sich zu gewöhnen ist unmöglich. Aber die Zeit bleibt nicht stehen. Am nächsten Morgen, heute, ist es wieder sonnig, ein heller Dezembersonntag, und die Menschen sind wieder draußen.