Seit Monaten toben die Kämpfe in Pokrowsk, einer befestigten Stadt im Donbass. Mit großer Geste meldete der Chef des russischen Generalstabs, Waleri Gerassimow, seinem Präsidenten Putin am 26. Oktober 2025, dass die Stadt eingekesselt sei und Tausende Ukrainer in der Falle säßen.
Energisch widersprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dieser Darstellung und behauptete das Gegenteil: Die Ukrainer seien siegreich, die Russen stünden vor einer Niederlage.
Operativer Kessel um Pokrowsk
Beide Seiten hatten Unrecht. Tatsächlich war die Stadt nicht physisch eingekreist – in dem Sinne, dass die russischen Invasoren einen undurchdringlichen Ring um sie hätten legen können. Doch ihre Zangen westlich und nordöstlich der Stadt hatten sich bis auf wenige Kilometer geschlossen. Das bestätigt auch das angesehene Institute for the Study of War.
Entscheidend waren die Kämpfe um Rodynske, Lysivka, Sukhyi Yar und Novoekonomichne. Als die Russen dort Fuß fassten, kappten sie alle größeren Straßen in die Stadt. Die letzten Wege lagen im direkten Sicht- und Drohnenbereich. Kleine Gruppen konnten immer noch durchschlüpfen, aber die Fahrt mit einem Fahrzeug glich einem Himmelfahrtskommando. Eine größere Garnison lässt sich so nicht versorgen. Frische Truppen können nur in geringer Zahl zugeführt werden, der Transport von Verwundeten ist kaum möglich. Eine derart bedrohliche Lage nennt man einen "operativen Kessel" – und genau den hatten die Russen aufgebaut.
Verheerende Kommando-Operation
Um zu beweisen, dass die ukrainischen Streitkräfte sehr wohl zu Gegenoffensiven fähig sind, führten sie in der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober eine kühne Operation durch. Drei Hubschrauber setzten jeweils etwa elf Kommandosoldaten auf einem Feld nahe dem nordwestlichen Zipfel der Stadt ab. Proukrainische Kommentatoren jubelten, nun seien die russischen Eroberungen im zentralen Stadtgebiet zurückgewonnen worden. Über die kühne Aktion wurde weit berichtet, etwa im britischen "Telegraph". Tatsächlich aber war die Operation ein kompletter Fehlschlag.
Ein Hubschrauber wurde schon bei der Annäherung von einer russischen Drohne entdeckt. Kaum am Boden, stürzten sich weitere Drohnen auf die kleine Gruppe – die Hälfte der Männer war tot, bevor sie die ersten Häuser erreichten. Der Einsatz bewies nur Gerassimows Behauptung: Pokrowsk war de facto eingekesselt. Sonst hätte Kiew keine Hubschrauber riskiert. Den russischen Vormarsch im Stadtgebiet konnten sie nicht nennenswert stören.
Infliltration in Mini-Gruppen
Im Kampf um Pokrowsk änderten die Russen ihre Taktik. Früher versuchten sie noch, sich seitwärts an den zentralen ukrainischen Stellungen vorbeizuarbeiten – getreu der alten Militärtheorie, dass demjenigen, der drei Seiten einer Box beherrscht, der Inhalt früher oder später zufällt. Bei Pokrowsk trafen sie an den Seiten jedoch auf erbitterten Widerstand.
Nun sickerten sie in Mini-Gruppen direkt in die Stadt ein, häufig nur zu zweit, oft auf Scootern oder zu Fuß, mit Rucksäcken, die größer wirkten als die Soldaten selbst. In der unüberschaubaren Trümmerstadt sind sie kaum auszumachen, auch weil einige zivile Kleidung benutzen. Pokrowsk wird verteidigt, aber das Stadtgebiet ist keineswegs durchgängig besetzt. Dafür gibt es viel zu wenige Verteidiger – die meisten Häuserblocks stehen leer. Die Russen schlichen sich ein, setzten sich in einem Versteck fest und steuerten von dort ihre Glasfaser-Drohnen, die nicht gestört werden können und deren Kabel bis zu fünfzig Kilometer reicht.
Das gesamte Stadtgebiet hat sich in einen umkämpften Raum verwandelt, dessen Größe die Ukrainer schlicht nicht abdecken können.
Glasfaserdrohnen entscheiden die Kämpfe
Lange war die Ukraine führend im Drohnenkrieg, doch seit die Russen Glasfaser-gesteuerte Drohnen in Massen einsetzen, hat sich das Blatt gewendet. Die Russen haben ihre Produktion hochgefahren, die Ukrainer leiden unter den russischen Luftangriffen. Im Hintergrund zieht China die Fäden. Alle Berichte über hohe ukrainische Eigenproduktion können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wesentlichen Module und Bauteile häufig aus China kommen – und Peking hat die Zufuhr in den letzten Monaten drastisch gedrosselt.
Vor den Kämpfen war Pokrowsk ein logistischer Knotenpunkt der ukrainischen Verteidigung. Diese strategische Bedeutung hat die Stadt schon lange verloren. Spätestens seit russische Drohnen in großer Zahl über dem Gebiet operieren, sind Versorgungseinrichtungen und Transporte unmöglich geworden. Dennoch haben die Ukrainer die Stadt zäh verteidigt. Nun steht die Schlacht vor ihrem Ende.
Halten bis zuletzt
Besonders tragisch: Nicht nur Pokrowsk, sondern auch die Nachbarstadt Myrnohrad droht abgeschnitten zu werden. Beide Städte gehen in einem Siedlungsbrei ineinander über. Mehrere Tausend Soldaten sitzen noch in der Falle, darunter Hunderte Verwundete, die nicht mehr herausgebracht werden können. Sie versuchen in kleinen Gruppen durch den engen Flaschenhals zu entkommen – die Lücke ist inzwischen keine drei Kilometer mehr breit und wird unablässig enger. Doch solche Rückzüge werden mit jedem Tag verlustreicher. Russische Linien sind genauso löcherig wie ukrainische, aber die Drohnenjagd ist gnadenlos.
Die ukrainische Führung verhindert ein rechtzeitiges Zurückweichen, ein Aufgeben der Stellungen, solange ein geordneter Rückzug noch möglich wäre – sei es aus Starrheit, sei es aus politischen Gründen. Davon profitieren die Russen. In dieser letzten Phase erleiden vor allem jene Ukrainer schwere Verluste, die aus der Umklammerung auszubrechen versuchen.
Russland erschöpft die ukrainischen Streitkräfte
Welche Bedeutung hat der bevorstehende Fall von Pokrowsk? Er beendet den Krieg nicht. Doch er bleibt eine weitere schwere Niederlage der Ukraine – in einer ganzen Kette jahrelanger Misserfolge. Eine weitere schwer befestigte Donbass-Stadt ist aus dem Verteidigungsring herausgefallen, und davon hat Kiew nicht mehr viele in der Hand. Der Fall wird den Weg gen Westen öffnen – Richtung Kramatorsk und Slowiansk, die letzten großen Bastionen im Donbass.
Das Hauptproblem: In diesen Kämpfen zeigt sich das Wesen des Erschöpfungskrieges immer deutlicher. An einzelnen Abschnitten halten die Ukrainer die Russen zäh auf, manchmal werfen sie sie sogar ein Stück zurück. Doch das sind punktuelle Erfolge. Die Kräfte, die Kiew dort bindet, fehlen schmerzlich anderswo – wo die Russen dann langsam, aber sicher vorrücken. Wie jetzt in Pokrowsk. Diese Entwicklung brachte Roger Boyes vom "Telegraph" dazu zu schreiben: "Ich sage es nur ungern, aber Kiew wird nicht bis zum Frühling durchhalten."
Das grundsätzliche Ungleichgewicht zwischen der kleineren Ukraine und dem größeren Russland wurde eine Zeit lang durch den schnelleren ukrainischen Einsatz kleiner Drohnen neutralisiert. Seit die Russen hier aufgeholt haben – wenn nicht sogar vorbeigezogen sind –, schlägt die schiere Größe wieder durch. Unerbittlich.