Last Call Der Henker aus der Nachbarschaft

Last Call: Der Henker aus der Nachbarschaft

Gestern kam ich mal wieder dort vorbei, wo der meist gesuchte Mann der Welt wohnte, Mohammed Emwasi oder: Dschihadi John. Er lebte mit seinen Eltern, vier Schwestern und einem Bruder in St. John’s Wood, ganz in der Nähe des berühmten Cricket-Stadions „Lord's Cricket Ground“ in einem Klinkerbau. Wenn dort ein Match war, hätte Mohammed Emwasi die Champagner-Gläser klirren hören können. Von unserer Straße bis zum Cricket Ground sind es gerade mal 15 Minuten zu Fuß. In Londoner Maßstäben ist das um die Ecke, man kann fast sagen: Nachbarschaft. Später zog die Familie nach Queen's Park im Nordwesten in eine Art Reihenhaus, ein Symbol der Bürgerlichkeit. Viele ISIS-Kämpfer kommen aus der Mitte der Gesellschaft und leben in Gegenden der gesellschaftlichen Mitte. Die meisten gehören keinesfalls einer frustrierten und chancenlosen und diskriminierten Randgruppe an. Sie könnten jedermanns Nachbarn sein und um die Ecke wohnen. Wie bei uns. Helfen heute alten Damen über die Straße und twittern morgen aus Syrien mit abgeschlagenen Köpfen.

Einer von ihnen war Dschihadi John.

Der Vater von Mohammed Emwasi, kam als Staatenloser aus Kuwait nach London. Er war Polizist und flüchtete – wie es heißt – aus politischen Gründen. Sie bezogen zwar Wohlfahrt, aber waren keine Parasiten oder Sozialschmarotzer, wie die britische Boulevardpresse geifert. Sie lebten ein Leben wie Hunderttausende. Der Vater kehrte vor einiger Zeit nach Kuwait zurück. Der Rest der Familie lebt unter Polizeischutz in einem Hotel. Am Wochenende entschuldigte sich der Sohn bei seinen Eltern und Geschwistern für die Probleme, die ihnen seine Enttarnung bereitet habe. Er entschuldigte sich nicht dafür, dass er Geiseln die Kehle durchschneidet und Obama droht und Cameron und überhaupt dem ganzen Westen.

Jeder kennt solche Typen von früher aus seiner Klasse

Es ist immer noch unklar, wie aus Emwasi relativ zügig der Henker und das Symbol des IS-Terrors werden konnte. Je mehr Details aus Emwasis früherem Leben bekannt werden, desto unschärfer und rätselhafter gerät das Bild. Vor acht Jahren wurde er gefilmt an seiner Schule, der Quintin Kynaston Academy in London. Man sieht einen dünnen, sehr scheuen Jungen mit Oberlippen-Flaum, der sich stets die Hand vors Gesicht hält, wenn die Kamera ihn filmt. Er ist in diesem Video genau das Gegenteil dessen, was er heute darstellt. Verhuscht und schüchtern und wortkarg. Er sei scheu gewesen, gerade im Umgang mit Mädchen aus seiner Klasse, die ihn merkwürdig nannten und sagten, er habe sich für seinen Mundgeruch geschämt. Jeder kennt solche Jungs von früher aus seiner Klasse.

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Die Jungs, die in der Pause bestenfalls Kontakt zu den anderen Außenseitern hatten und nie zu Parties eingeladen und beim Fußball immer zuletzt gewählt wurden. So einer muss Mohammed Emwasi gewesen sein. Mit Ausnahme vom Fußball. Fußball konnte er. Beim Fußball wurde er immer gewählt.

Emwasi, so viel weiß man mit Sicherheit, war intelligent und offenbar auch zuvorkommend. Er studierte Informatik und arbeitete eine Zeitlang in Kuwait in einem IT-Laden. Der Besitzer wird mit den Worten zitiert, er habe nie einen besseren Angestellten gehabt. Nach der Enttarnung in der vergangenen Woche äußerte sich auch der Chef der Gefangenenhilfsorganisation „Cage“ ziemlich positiv. Asim Qureshi sagte, Emwasi sei ein „wunderbarer, junger Mann gewesen“ und vermutlich erst durch die Verhöre des britischen Geheimdienstes zum radikalen Halsabschneider konvertiert. Das kann man glauben, das kann man aber auch genauso gut lassen.

Das Rührstück und die Wahrheit: Er verhielt sich wie ein Arschloch

Emwasi verdammte die Terroranschläge in New York und London in Gesprächen mit dem Inlandsgeheimdienst MI5 und sympathisierte zugleich mit der somalischen Terror-Organisation al-Shabaab. Er flog mit zwei Gleichgesinnten, darunter ein Deutscher namens Marcel S., im Mai 2009 nach Tansania, betrank sich an Bord, wurde bei der Einreise abgewiesen und in den nächsten Flieger zurück nach Amsterdam gesteckt. Zunächst hieß es, die drei seien wegen der potentiellen Terror-Nähe an der Weiterreise gehindert und verhört und dabei geschlagen worden. Diese Version verbreitete der angehende Terrorist später in Mails und Gesprächen mit „Cage“, und daraus wurde dann das Rührstück vom missverstandenen „wunderbaren, jungen Mann“. Die Wahrheit ist viel profaner: Sie verhielten sich wie Hooligans auf Auswärtsfahrt. Der wunderbare junge Mann beleidigte und pöbelte und benahm sich wie ein veritables Arschloch. Nur deshalb schickten sie ihn aus Tansania im Flugzeug gleich wieder zurück.

Das Böse kann manchmal tatsächlich furchtbar banal sein. Seine Geschichte löst auch deshalb so viel Nervosität in Großbritannien aus, weil sie so subversiv normal ist. Es gibt Abertausende potentieller Emwasis da draußen.

Rund 700 britische Staatsbürger, die meisten jung, sind im Laufe des letzten Jahres nach Syrien oder in den Irak gereist und halten sich für Heilige Krieger. Es sind Studenten, Ärzte, Computerfachleute und Jugendliche darunter. Und natürlich jede Menge verblendeter Fanatiker. Es sind Brüder, Zwillingsschwestern, Ehefrauen. Und Kinder. Ein Fünftel Frauen, Dschihadi-Bräute. Zuletzt setzten sich drei Mädchen aus London über die Türkei nach Syrien ab, und nun klagen deren Eltern allen Ernstes, sie hätten von den Behörden gewarnt werden müssen. Eine Klassenkameradin der drei war zuvor schon nach Syrien abgehauen. Das hätten sie wissen müssen, sagen die Eltern. Denen aber nicht auffiel, dass ihre Töchter Familienschmuck klauten und den versilberten für die Flugtickets. Sie geben dem Staat die Mitschuld daran, dass die Töchter türmten. So was nennt sich blame game. Blame game hat zur Zeit Saison.

Die Zeitungen fragen, warum Emwasi – obschon auf dem Radar der Geheimdienste – überhaupt hat fliehen können aus Großbritannien. Als könne man jeden auch nur annähernd Verdächtigen jahrelang und rund um die Uhr beschatten. Wenn man das konsequent zu Ende denkt, ist man ganz schnell beim Überwachungsstaat. Emwasi versteckte sich in einem Lastwagen auf einer Kanalfähre, reiste von Frankreich in die Türkei und von dort nach Syrien. Das war 2013. Ein Jahr später tauchte er wieder auf. Und schnitt der amerikanischen Geisel James Foley den Kopf ab.

So sahen ihn seine Eltern wieder. Und die ganze Welt. Als Dschihadi John. Geboren als Mohammed Emwasi in Kuwait. Aufgewachsen, zur Schule gegangen und studiert in London. Zuletzt wohnhaft in Queen's Park, London NW 10. Einer ziemlich bürgerlichen Adresse.