Ich lebe in der Stadt der Wunder. Manchmal auch der blauen Wunder. Jeden Morgen um sieben Uhr gucke ich aus dem Fenster und denke: Ist diese Stadt, die einmal klein und urban war und Bombay hieß, nur ein schlechter Traum, eine lästige Fata Morgana? Nein, ich kann Ihnen versichern, die 18-Millionen-Megastadt existiert wirklich, denn ich sehe unsere zahmen Spatzen, die wie jeden Morgen auf dem Balkon hocken und schon ungeduldig auf unsere Toastkrümel warten; ich winke den Frauen in ihren bunten Saris im Appartmenthaus gegenüber zu, die gerade die Wäsche aufhängen; ich höre die Fahrradklingel des Milchmanns und das Hupen und Dröhnen des Verkehrs und das flappende Gekrächze der Hubschrauber, die die Millionäre und Milliardäre pünktlich zur Arbeitstelle im glitzernden Finanzzentrum transportieren und rufe: "Hallo, Mumbai, du Mega-, du Monsterstadt, du bist ja immer noch da!" Soweit, so normal.
Und wenn Mumbais Bürgermeisterin Shubha Raul morgens so wie ich aus dem Fenster ihrer Residenz sieht? Diesmal wird sie sich die Augen reiben, denn sie hat, dank sei den Richtern von Mumbais High Court, plötzlich etwas entdeckt: "Huch, ein Wunder über Nacht, da gibt es ja eine ganz neue Stadt in meiner Stadt, und die soll auch noch illegal sein?" Ich finde, die Frau Bürgermeister, die sonst etwas streng in ihrem untadeligen Sari aussieht, hat Humor. Der Vorort Mullund besteht nämlich, für jeden Autofahrer auf dem stets überfüllten Western Expressway gut sichtbar, aus mäßig schönen Hochhäusern für rund zehntausend Einwohner und der glitzernden Mullund-Mall. Die hat nur einen großen Schönheitsfehler: sie ist illegal. Der Komplex wurde vor rund zehn Jahren auf dem Forst- und Naturschutzgebiet des berühmten Sanjay Gandhi National Park gebaut. 140 Hektar von ursprünglich 574 Hektar knappsten die Herren Baulöwen den wilden Leoparden, Affen und Papageien einfach ab. Das hat der Bombayer Gerichtshof gerade herausgefunden und dringt nun auf den Abriss der ganzen Gebäude. Na, so was! Das wäre fast so, als wenn Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust plötzlich erwachte und sagte: "Ja, was haben wir denn da für eine schöne neue Hafen-City, wusste ich ja gar nicht!" Man kann ja von der Bürgermeisterin einer indischen 18-Millionenstadt mit gigantischen Slums nicht verlangen, dass sie jeden Einwohner persönlich besucht - aber die Riesen-Wohnblöcke von Mullund sind gut sichtbar. "Wir haben doch schließlich gültige Grundstücksverträge von der Stadt" sagt Shambhubhai Thakkar, Makler und Wohnungseigentümer in Mullund. "Wenn unsere Gebäude illegal sind, wieso hat die Stadt dann unsere Strom- und Wasserleitungen genehmigt?" Das hohe Gericht hat den Abriss verfügt, aber die Stadt hat eine "eingehende Prüfung" angekündigt, und das heißt für uns in Mumbai: nix Abriss, alles bleibt beim Alten. Sollen doch die letzten Leoparden hingehen, wo der Pfeffer wächst.
Eine Stadt mit seltsamer Stadtplanung
Manchmal fragt man sich, ob es in der Stadt der Wunder überhaupt eine moderne Stadtplanung gibt oder nur Wunderheilerei, mit denen man ächzenden Problemen wie Verkehr, Dreck, Abwasser zu Leibe geht. Zum Beispiel beim Starprojekt Sealink, einer circa 4,7 km langen Brücke über den Bandra Creek, die Nord- und Südmumbai besser verbinden und die stundenlangen Staus - hokuspokus - auflösen soll. In den Festreden vieler Lokalpolitiker existiert die Brücke bereits und trägt schon fleißig zur "World class"-Infrastruktur Mumbais bei. Na ja, sie sei fast, fast, fast fertig, heißt es seit 2002. Auf digital bearbeiteten Zeitungsbildern schimmert bereits eine bläulich-elegante Fahrbahn über den Fluss, in Wirklichkeit würde jedes Fahrzeug etwa nach der Hälfte der Strecke ins Wasser plumpsen - weil es die restlichen Brückenstelzen noch nicht gibt. Flotte Grundstücksmakler, die Häuser in Nord-Mumbai an den Mann bringen wollen, versprechen den Pendlern bereits eine Blitzfahrzeit von 20 Minuten in die Innenstadt, wobei zwei Stunden und 20 Minuten realistisch sind - und bleiben: Experten haben nämlich urplötzlich festgestellt, was jedes Kind sehen konnte: dass der achtspurige Brückenverkehr im Stadtteil Worli genau auf jene nur zweispurige Verkehrsader trifft, die jetzt schon der Flaschenhals von Mumbai ist. "Wir überlegen uns da was", versichert treuherzig die Verkehrspolizei gegenüber der Tageszeitung DNA.
Frau Bürgermeister Shubha Raul hat sich sicher auch was überlegt, als sie am 11. März in nur zwei Minuten, wie die Tageszeitung Hindustan Times sarkastisch vermerkt, im 227 köpfigen Stadtrat abstimmen ließ, dass der Crawford Market, einer der größten und buntesten Gemüsemärkte der Welt, der auch noch unter Denkmalschutz steht, an einen dubiosen Investor verkauft wird. Der will dort eine Glitzermall hochziehen, die dann so leer stehen wird wie die anderen Malls der Stadt, die sich die normalen Mumbaier nicht leisten können. Jedenfalls kein Ersatz für das bunte Treiben des ehrwürdigen, zugegeben etwas heruntergekommenen Marktes. Draußen vor der Rathaustür stand ein Häuflein aufrechter Bürger und Aktivisten, alle in weiß, in Indien die Farbe der Trauer, gekleidet, um gegen den Ausverkauf des über hundertjährigen "Bauchs von Mumbai" zu protestieren. Es sei doch merkwürdig, dass die Stadt ihr Herzstück für nur 30 Millionen Euro verschleudere, während dem Bauherrn ein vielfacher Profit von 190 Millionen Euro winke. "Wir haben eben zum Besten der Stadt entschieden", so die Antwort eines Lokalpolitker.
Edel-Klos für stinkende Stadt
Geld stinkt nicht, wussten schon die alten Römer. Aber in Mumbai stinkt es gewaltig, vor allem zum Himmel: 60 Prozent der Einwohner haben kein eigenes Klo oder Bad. Zehn bis elf Millionen Mumbaier müssen sich also in unappetitlichen Massenlatrinen entleeren oder sie ziehen gleich die Open-Air-Toiletten, also Bürgersteige, dunkle Gassen, Parks und Strände vor. Ob Frau Bürgermeister eines Morgens vielleicht aus dem Fenster ihrer Residenz guckte und jemanden direkt vor ihrer Haustür auf die Straße sch...n sah? Jedenfalls kam die Stadt keine zwei Wochen nach dem Skandal um den Crawford Market auf die glorreiche Idee, 30.000 (!) Luxuslatrinen für ihre Bürger zu errichten. Bis Dezember 2008. Punktum. Auf einer Computergraphik sehen die Aborte wie kleine, feine Mittelklasse-Hotels aus, aber noch ist kein Gelände ausgewiesen, kein Spatenstich getan, kein Rohr verlegt, doch Stadtrat Ratnakar Gaikwad brüstete sich, es sei "das erste Mal in der Geschichte Indiens", dass "so ein riesiges, großartiges und luxuriöses Toilettenprojekt" angepackt worden sei. Sollten die 30.000 Edel-Pissoirs wirklich zum Jahresende stehen, lade ich Sie, liebe Leserinnen, lieber Leser, gerne zu einem Toilettenbesuch ein - auf meine Kosten.