Mail aus Mumbai Selbstmord vor der Webcam

  • von Swantje Strieder
Als seine Freundin mit ihm Schluss machen wollte, drohte ein Medizinstudent sich umzubringen. Obwohl die Frau ihn anflehte, es nicht zu tun, erhängte er sich vor der laufenden Webcam. Die indische Polizei fürchtet nun Nachahmer, da immer mehr junge Inder im Selbstmord den letzten Ausweg sehen.

Es war keine melodramatische Filmszene aus Bollywood sondern ein tragisches Studentenschicksal: Nachdem seine Freundin beim Chat mit ihm Schluss machen wollte, drohte der 20-jährige Medizin-Student Karthik, sich vor ihren Augen umzubringen. Vor der Webcam. "Das Mädchen bekam einen Wahnsinnsschreck und flehte ihn an, es nicht zu tun", so ein Polizist, der den Chat der beiden Minuten vor der Tat ausgewertet hatte, "doch der junge Mann blieb fest entschlossen. Das Mädchen musste live mit anschauen, wie er die Webcam zur Decke richtete, auf den Stuhl stieg und sich am Ventilator erhängte." Karthik, im zweiten Jahr Zahnmedizin im südindischen Kerala, war in eine gleichaltrige Management-Studentin in Delhi verliebt, doch die Familien hielten nichts von der Beziehung und rieten dem Pärchen, sich weniger um einander als viel mehr um ihre Studien zu kümmern. "Das Mädchen steht völlig unter Schock", so einer der Ermittler, der im Übrigen keine Details nennen wollte. Zu sehr fürchtet die Polizei die Nachahmer-Verbrechen, denn jetzt im März und April ist landesweit Examenszeit und da schnellen die Selbstmorde bei Schülern und Studenten hoch.

Indiens akademische Jugend steht unter Druck wie nie zuvor. "Bildung ist für uns die einzige Aufstiegschance, es sei denn, du hast stinkreiche Eltern" sagt Megha, 20-jährige Journalistikstudentin in Mumbai, "sonst landest du in der Gosse!" Der Stress beginnt schon im Kindergarten. Wenn die Kleinen um zwei Uhr nachmittags nach Hause kommen, warten nicht der Spielplatz oder der Fußballspaß mit Freunden sondern das Tutorat fürs ABC und Einmaleins. "Viele Schulen delegieren Teile des Unterrichtstoffs gleich an den Nachhilfelehrer. Und der ist natürlich nicht umsonst", sagt Megha.

Nicht alle Inder sprechen Englisch oder Hindi

Wer kein Einser-Kandidat ist, hat wenig Chance auf einen Studienplatz. Und manchmal reichen auch hervorragende Leistungen nicht, denn an den Universitäten regiert ein gut gemeintes, aber leistungsfeindliches Quotensystem, das in manchen Bundesstaaten bis zu 70 Prozent, in Andra Pradesh sogar bis zu 80 Prozent der Studienplätze an niedere Kasten vergibt. "Meine zwei Kinder waren zum Glück sehr motiviert, aber sie mussten noch besser als gut sein, um einen der wenigen "freien" Studienplätze zu bekommen, denn ich bin nun mal Brahmanin", klagt meine Freundin Vaishali. Es gibt genug Verzweifelte aus der Mittelklasse, die sich deswegen ein gefälschtes Kastenzertifikat besorgen, um doch noch irgendeinen Karrierezipfel zu packen. Nur den ganz Reichen ist es egal, sie schicken ihre Kinder eh nach England oder in die USA.

Dazu kommt eine ausufernde, oft auch korrupte Bildungsbürokratie, relativ hohe Studiengebühren, Lehrpläne von Anno dazumal und Indiens Vielsprachigkeit. Denn bei weitem nicht alle Inder sprechen Englisch oder Hindi, immerhin die zwei Hauptsprachen, sondern nur eine der 16 anderen offiziellen Landessprachen. Das führt manchmal zum babylonischen Sprachwirrwarr, was einer modernen Wirtschaftsmacht nicht gut tut. Im florierenden Bundestaat Maharashtra , Hauptstadt Mumbai, dringen rechtsradikale Lokalpolitiker immer mehr auf die Landessprache Marathi - in den Schulen, in den Universitäten, sogar im Landesparlament. Dass solcher Provinzialismus ihre eigenen Kinder in einer globalisierten Welt mit Englisch als IT-Sprache benachteiligt, konnten sich die Politiker nicht vorstellen. Vor ein paar Wochen brachte sich ein 18jähriger Student in Mumbai um, weil sein Englisch zu schlecht war, um dem wissenschaftlichen Unterricht zu folgen.

Die Eltern machen oft zuviel Druck

Das Schlimmste aber sind die hysterischen Eltern, die soviel Druck machen, dass sie ihre Sprösslinge in den Wahnsinn treiben. "Die Jugendlichen wissen, dass ihre Eltern viel opfern und sich oft verschulden müssen, um ihnen das Studium zu ermöglichen," sagt Megha, " wenn sie dann versagen, machen sie lieber Selbstmord, als ihre Schmach den Eltern einzugestehen." "Was haben wir unseren Kindern angetan?" so zwei Abgeordnete diese Woche in einer parlamentarischen Anfrage in New Dehli, "der ausufernde Stress zwingt unsere Schüler und Studenten entweder zu Drogen oder zu Selbstmord." Der glühende Aufruf zu einem menschlichen, überschaubaren Examenssystem kam leider zu spät für Saloni Kumari. Die 22-jährige Musterstudentin aus Bihar hatte sich am Tag zuvor erhängt, weil sie schlechter als erwartet abgeschnitten hatte.

Hat auch Megha mal an Selbstmord gedacht? "Das tun wir alle mal", gesteht die Studentin, " aber zum Glück habe ich eine Mama, die mich lieb hat und immer aufbaut!" Vor jedem Examen ihrer Tochter geht Frau Sharma als fromme Hindu-Gläubige auf Pilgerfahrt quer durchs Land und betet zum Elefantengott Ganesha um gutes Gelingen." Wenn Megha gute Noten heimbringt, sagt sie " Siehst du, Kindchen, hat doch wieder gut geklappt!" Ganesha sei gedankt.