Endlich ist es soweit. Essie Bindu hat schon seit ein paar Tagen gespürt, dass ihr Kind auf die Welt drängt. Die 28-Jährige freut sich darauf, wie auf ihre drei anderen Kinder zuvor. In der Gesundheitsstation von Baomé Kpenge im Südwesten von Sierra Leone kämpft und schreit sie gegen die Wehen an, die immer stärker werden. Sie müht sich stundenlang. Und dann ist das Baby da. Es liegt mit runden Bäckchen und zusammengeballten Fäustchen vor ihr auf einer Decke - und es ist tot. Irgendwann während der schweren Entbindung ist es erstickt.
Dritte Welt-Realität
Ein Schicksal, das mit einem Kaiserschnitt leicht hätte verhindert werden können. Doch in Baome´Kpenge gibt es keinen Arzt. Und das einzige Krankenhaus im Bonthe Distrikt, zu dem Baomé Kpenge gehört, ist zwei Stunden und unzählige holprige Sandpisten entfernt. Zwei Ärzte müssen sich dort um 200.000 Menschen kümmern. Zum Vergleich: Laut WHO sollte es weltweit pro 1000 Menschen 2,5 Gesundheitsmitarbeiter geben. Das wären ca. 20 für das Einzugsgebiet der Gesundheitsstation.
Die dramatische Situation in Baomé Kpenge ist "Dritte Welt"- Realität und ein klarer Beleg für die Notwendigkeit der Entwicklungsziele, die auf dem UN-Millenniums-Gipfel in New York debattiert wurden: Bis zum Jahr 2015 - so haben es die 189 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im Jahr 2000 beschlossen - sollen reiche und arme Länder verpflichtet sein, die Armut drastisch zu reduzieren und ökologische Nachhaltigkeit ebenso zu fördern, wie Demokratie und Frieden auf der Welt. Doch die Realität sieht anders aus. Noch immer sterben täglich fast 24.000 Kleinkinder unter fünf Jahren an Hunger und vermeidbaren Krankheiten. Das entspricht ungefähr dem Absturz von 40 mit Kindern vollbesetzten Airbus A380 am Tag. Mehr als eine Milliarde Menschen leben in extremer Armut, über 700 Millionen Menschen hungern und sind unterernährt. Für mehr als eine Milliarde Menschen gibt es keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
"Große Worte und leere Hände"
Die Kritik der Nichtregierungsorganisationen ist dementsprechend drastisch. Auch Deutschland habe die Selbstverpflichtung zur Hilfe für die Entwicklungsländer nicht ernst genug genommen. Nach der Rede der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf dem Gipfel sind die im Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO) organisierten Hilfsorganisationen enttäuscht. "Die Bundeskanzlerin ist mit großen Worten, aber leeren Händen nach New York gereist", erklärte VENRO- Vorstandsvorsitzender Ulrich Post. Bereits im Vorfeld der UN –Konferenz war Deutschland wegen mangelnder Zusagen zur Auffüllung des Fonds in die Kritik geraten. Merkel hatte in ihrer Rede vor den Vereinten Nationen erklärt, dass nicht alle Ziele bis 2015 erreicht werden. Deutschland strebe aber weiterhin an, ein verlässlicher Partner zu sein – die Verantwortung für den Entwicklungsprozess liege jedoch in erster Linie bei den Regierungen der Entwicklungsländer.
"Frau Merkel hat Recht: Viele Entwicklungsländer müssen ihre Eigenanstrengungen zur Erreichung der Millenniumsziele verstärken", so Ulrich Post. Dies dürfe aber kein Argument für die Bundesregierung sein, um sich aus ihrer - auch finanziellen - Verantwortung zu stehlen. Die plötzliche Betonung von Eigenanstrengungen und ergebnisorientierter Hilfe nähre genau diesen Verdacht. Stefan German, Direktor Forschung & UN-Beziehungen bei der Hilfsorganisation World Vision, erläutert: "Auch die afrikanischen Länder selbst sind gefordert. Sie haben sich im Jahr 2001 in Abuja verpflichtet, 15 Prozent ihrer Staatshaushalte für Gesundheit zu verwenden. Und wir sehen, dass es hilft. So konnte beispielsweise Tansania die Kindersterblichkeitsrate erheblich senken, unter anderem weil sie ihr Budget für Gesundheit verdoppelt haben."
100 Euro für den Knochenjob
Dass die Entwicklungsländer selbst etwas zur Bekämpfung der Probleme tun müssen, weiß man auch in Sierra Leone. Denn das Land leidet an einer der höchsten Kindersterblichkeiten weltweit. Viel zu viele Kinder haben keine Chancen, das fünfte Lebensjahr zu erreichen. Martin Senesie, der als Krankenpfleger in der Gesundheitsstation von Baomé Kpenge arbeitet und sich vergeblich bemüht hat, Essies Baby zu retten, will trotzdem nicht aufgeben. "Jeden Tag betreut er neben den normalen Krankheitsfällen etwa 150 Frauen mit ihren Kindern, sieben Tage die Woche und wenn es nötig ist auch nachts", erzählt Silvia Holten, die für World Vision die Gesundheitsstation besuchte. Urlaub gibt es für Martin Senesie nicht und der Lohn für die schwere Arbeit beträgt gerade einmal 100 Euro.
Und dennoch: Auch für die Menschen in Baomé Kpenge gibt es Hoffnung. Denn seit im April von der Regierung von Sierra Leone ein neues Gesetz beschlossen wurde, hat sich die Situation im Distrikt erheblich verbessert. Vor April gab es in Baome nur Hilfskrankenpflegepersonal und traditionelle Geburtshelferinnen. Auch im Distriktkrankenhaus in Bonthe gab es keinen Arzt. Jetzt sind es immerhin schon zwei.
Die Patienten stehen Schlange
Das neue Gesetz, das Kindern unter fünf Jahren sowie Schwangeren und stillenden Müttern Zugang ohne Bezahlung zum staatlichen Gesundheitssystem gibt, hat dafür gesorgt, dass viel mehr Menschen die staatliche Gesundheitsvorsorge in Anspruch nehmen. Die Folge: im August starben nur drei Kinder im Einzugsgebiet der Gesundheitsstation in Baome´Kpenge. Dafür stöhnt das System nun unter dem Andrang von Patienten. Seit April hat sich deren Zahl um 279 Prozent erhöht.
Wichtige Faktoren kamen zusammen: Die Geberländer stellten das nötige Geld bereit, um neues Gesundheitspersonal einzustellen und das System auf mehr Patienten vorzubereiten. Und die Regierung Sierra Leones traf die nötigen Haushaltsentscheidungen, um dem Gesundheitssektor mehr Mittel zukommen zu lassen. Dass Hilfsorganisationen wie World Vision die Anstrengungen unterstützen, trägt zum Erfolg bei. Die Arbeit von Martin Senesie, dem staatlichen Krankenpfleger von Baomé Kpenge, wird durch das Kleinkinder-Ernährungsprojekt von World Vision unterstützt, denn durch das Projekt bekommt Martin Nahrungsmittel für unterernährte Kinder, und die Mütter werden vom Regionalentwicklungsprojekt World Visions in richtiger Kinderernährung ausgebildet. Eine milliardenschwere Kampagne zur Rettung der Leben von Millionen Frauen und Kindern soll zusätzliche Hilfe bringen. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon will zum Abschluss des Millennium-Gipfels eine Initiative vorstellen, für die Regierungen und private Organisationen in den nächsten fünf Jahren 40 Milliarden Dollar (30 Milliarden Euro) aufbringen wollen. Die Initiative will eine der größten Ungerechtigkeiten unserer Zeit zu korrigieren: Das stille Sterben von jährlich 8 Millionen Kindern und 358.000 Müttern.