Planet Indien Wo Eindeutigkeit keine Tugend ist

Von Teja Fiedler, Mumbai
Indien ist einer der aufstrebenden neuen Großmächte. In einer siebenteiligen Serie hat stern.de den faszinierenden Subkontinent porträtiert. Diesmal: Porträt eines deutschen Unternehmers, der nicht glauben will, welche Ausmaße die Bürokratie in Indien annehmen kann.

"Ich musste noch nie so viele Unterschriften leisten wie hier", sagt Frank König. Der 49-jährige Hamburger steht auf dem Dach des Gebäudes am Hafen von Mumbai, in dem die Räume seiner Firma untergebracht sind, und schaut auf das Gewirr der Kräne unter sich. Seit zwei Jahren leitet er die indischen Aktivitäten von "Illies und Co.", einem mittelständischen Hamburger Unternehmen, das Kunden mit schlüsselfertigen Industrie-Anlagen von Container-Kränen über Automobil-Roboter bis hin zu Supermarkt-Installationen beliefert. Die Firma ist kein Asien-Neuling, im Gegenteil, sie wurde 1859 als erstes deutsches Unternehmen überhaupt in Japan gegründet und ist erst viele Jahre später mit ihrem Hauptsitz in die hanseatische Heimat zurückgekehrt. Und auch König ist ein Fernost-Experte: Vor dem Job in Mumbai war er schon viele Jahre in Indonesien, in Japan und in Südkorea tätig.

"Aber Indien ist anders," sagt König mit einem leicht ironischen Lächeln, "ganz anders". Natürlich gebe es in einem Land mit über einer Milliarde Menschen und einem jährlichen Wirtschaftswachstum von fast zehn Prozent hervorragende Business-Möglichkeiten. Deswegen will seine Firma auch ihre Präsenz von jetzt 20 indischen Mitarbeitern auf etwa 50 aufstocken und schon in naher Zukunft weitere Büros in Delhi und Chennai (ehemals Madras) eröffnen. Doch die "Passage to India" sei kein Spaziergang oder Selbstläufer, so König, dessen sollten sich alle unternehmungslustigen Mittelständler bewusst sein.

Eindeutigkeit ist keine indische Tugend

"Diese Bürokratie", seufzt der Hamburger, "du rennst von einer Behörde zur nächsten, sprichst fünf Mal irgendwo vor, beantwortest tausend Fragen, die nach meiner bescheidenen europäischen Meinung nichts mit dem eigentlichen Anliegen zu tun haben, und kriegst am Ende weder ein klares Ja noch ein klares Nein." Es habe ein Zeit gedauert, bis er erkannt habe, dass Eindeutigkeit einfach keine indische Tugend sei. Außerdem verstehe sich eine indische Behörde nicht als staatliche Dienstleistungsunternehmen, sie sehe die Menschen, die zu ihr vordringen, eher als lästige Bittsteller. (eine amerikanische Studie hat kürzlich Indien weltweit abgeschlagen auf den 122. Rang platziert, was das Businessklima angeht. Hauptgründe: bürokratische Hemmnisse und undurchsichtige Steuerpraxis)

Jenseits der schwerfälligen und willkürlichen Bürokratie beklagt König den Mangel an Planung im Lande. "Ich weiß, es hört sich etwas überraschend an, da doch ganz Europa vom indischen Wirtschaftswunder spricht. Doch selbst in Indonesien wird weit zielstrebiger vorgegangen als hier, von Japan oder Korea gar nicht zu reden. Hier in Indien tritt nicht selten überschäumender Optimismus an die Stelle von nüchternem Realitätssinn." Am liebsten hat der Mittelständler König mit indischen Mittelständlern zu tun. Denn die seien bereit, zuzuhören und auf Vorschläge einzugehen.

Mit Großunternehmen ist dies nicht immer so. Ein Beispiel. König bot einem der größten indischen Verpacker von Milchprodukten an, mit neuester Technologie den beklagenswerten Zustand ihrer Butter-Einerportionen zu beheben. "Deren Dinger kriegt man in der Hälfte der Fälle am Frühstückstisch im Hotel kaum auf." Die Firma lehnte entrüstet ab. Ihre Plastikdöschen seien Weltklasse - sie bräuchten keinen guten Rat von außen.

Beim Geschäftsessen plaudert man auch über Privates

Trotzdem fühlt sich der Vater von drei Kindern wohl in Indien und in seiner Haut. "Ich mag die Menschlichkeit der Inder, ihr Interesse an meiner Familie. Auch bei einem Geschäftsessen spricht man über Frau und Kinder. Umgekehrt bei einem privaten Einladung natürlich auch über Geschäfte." Königs Frau Marika studiert an der Uni Mumbai Kunst als einzige ausländische - und mit Abstand älteste - Studentin. "Eigentlich sollen die Vorlesungen in Englisch sein," sagt Marika König, "aber meist fallen die Professoren doch ins Hindi, einfach weil sie vergessen, dass ich Ausländerin dabei bin."

Manchmal fahren die Königs hinaus aus dem Moloch Mumbai und dann sind sie immer wieder betroffen über den riesigen Abstand, der in Indien zwischen Stadt und Land herrscht. Denn auch wenn für Europäer schon Mumbai ein Ort mit tausend Problemen und extremen Gefälle zwischen Arm und Reich ist, auf den Dörfern ist das alte, das elende Indien allgegenwärtig. Bevor dieser Abstand sich nicht entscheidend verringere, werde es für Indien schwer, tatsächlich zu der wirtschaftlichen Supermacht aufzusteigen, von der das Land träume. "Ich halte mangelnde Bildung neben der schlechten medizinischen Versorgung langfristig für das größte Problem Indiens, noch mehr als die unzureichende Infrastruktur. Ein Analphabet etwa aus einem abgelegenen Dorf des bitterarmen Bundesstaats Bihar kann sich einfach mental nicht in einer modernen Industriegesellschaft behaupten."

Sauber sind nur die indischen Autos

Man könnte noch lange über die indischen Defizite diskutieren. Über das Desinteresse an Sauberkeit jenseits der eigenen Wohnung oder des eigenen Wagens. "Nirgendwo sonst werden Autos jeden Tag so gründlich gewaschen wie hier. Aber das macht ja auch der Fahrer. Andererseits findet niemand was dabei, den Ölwechsel einfach im Straßengraben zu machen." Über die Scheu der Chefs, Verantwortung nach unten abzugeben, und umgekehrt die der Angestellten, selbst Entscheidungen zu treffen ohne sich oben rückzuversichern." Mitarbeiter indischer Firmen kennen außerdem bei einem Projekt nur selten den Gesamtprozess. Meist wissen sie nur über ihren kleinen direkten Arbeitsbereich Bescheid."

Man kann aber auch über die indischen Tugenden reden. Trotz des allgemeinen Durcheinanders die Dinge irgendwie mit hoher Improvisationskunst hinzukriegen. Bereit zu sein, zwölf Stunden und länger am Tag zu studieren und zu arbeiten. Und das Lächeln fast nie zu vergessen. König findet, dass ausländische Konkurrenz den Indern gut tue." Noch sind die meisten Unternehmen hier auf ihren riesigen Binnenmarkt fixiert und strengen sich nicht immer so richtig an. Wenn die Welt jetzt mit Qualitätsware ins Land kommt und umgekehrt indische Firmen auf die Weltmärkte wollen, kann das den Standard nur verbessern." Dann seufzt der Indien-Chef von Illies. Denn morgen muss er zur Fremdenbehörde. Sein Arbeitsvisum verlängern. "Das letzte Mal hat sich die Prozedur acht Monate hingezogen."

Liebe Leser, die Serie "Planet Indien" ist im September dieses Jahres erschienen - also vor den Terroranschlägen in Mumbai. Wir haben uns entschieden, die Texte nicht entsprechend zu aktualisieren, d. Red.