Rumänien-Serie, Teil 5 "Eltern kann man nie gerecht werden"

  • von Karin Spitra
Emilia Nicoara sieht aus wie ein zartes, braves Mädchen - doch der Eindruck täuscht. Hinter der unschuldigen Fassade steckt eine Rebellin, die ihren eigenen Weg gehen will - allen rumänischen Konventionen zum Trotz.

Wäre Emilia Nicoara in Mainz, Landshut oder Berlin geboren worden - die 26-Jährige wäre ein tolles Beispiel für Fleiß und Zielstrebigkeit. Ansonsten wäre nichts an ihrer Biografie besonders erwähnenswert. Aber Emilia wurde in Cisnadie (dt. Heltau) geboren, einem Dorf bei Sibiu (dt. Hermannstadt). Und das macht ihre Biographie zu etwas Außergewöhnlichem. Denn was in Mainz, Landshut oder Berlin nichts Besonderes ist, macht sie im heutigen Rumänien zu einer Rebellin gegen die Konventionen. Die Triebfeder war stets dieselbe: "Ich wollte immer unabhängig sein", erzählt Emilia. Und dass sie nur ihren eigenen Weg gehen wolle, mehr nicht. In Rumänien reicht das schon.

"Warum willst du weg?"

Die Dimension ihrer Taten erfasst man nur, wenn man Emilias Weg mit dem vergleicht, den ihr die Konventionen zugewiesen hätten. Schon ihr erstes "Aufmucken" kommt einem nicht wie eines vor. Denn alles was sie tut, ist ihren Eltern im ersten Uni-Semester zu eröffnen, dass sie ausziehen will - und völlige Verständnislosigkeit erntet. "Ich weiß noch genau, dass mein Vater mich gefragt hat, ob ich verrückt bin", erinnert sie sich. "Er meinte: Du hast ein Bett, Essen und auch sonst alles was du brauchst - warum willst du weg?"

Denn hier leben 'anständige' Mädchen eigentlich noch bis zur Hochzeit bei den Eltern - um danach oft einfach nur die Familie zu wechseln, weil sie zu den Schwiegereltern ziehen. Zwar sind die Sitten in den Städten viel lockerer geworden, aber auf dem Land herrscht eine verquere Mischung aus 50er-Jahre-Moral und MTV-Feeling. So auch in Heltau, einem kleinen 21.000-Seelen-Kaff. Weil sie es nicht verhindern können, darf Emilia also ausziehen - in die Einliegerwohnung im elterlichen Haus. Gleichzeitig drehen ihr die Eltern den Geldhahn zu. "Sie hatten wohl gehofft, dass ich so zu ihnen zurückkomme. Bin ich aber nicht."

Alles wurde gepetzt

Sie erzählt, dass sie schon als Kind das Verbotene gereizt hat. Vielleicht war das aber auch nur emotionale Notwehr, weil sie nie etwas unbeobachtet machen konnte: "In so einem kleinen Dorf die Tochter des Arztes zu sein, war wahnsinnig schwer. Ich konnte nicht einmal bei Rot über die Straße gehen, ohne dass ein Patient es meinem Vater erzählt." Also habe sie immer schon gemacht, was sie eigentlich nicht durfte. Als Emilia dann das Bruckenthal-Gymnasium besucht, eine renommierte deutsche Schule, wird sie noch in dieser Haltung bestärkt: "Dort hat man uns beigebracht, dass eigentlich alles möglich ist, wenn man es nur will," sagt sie.

Emilia erzählt, wie sie sich die nächsten Jahre mit schlecht bezahlten Jobs durchschlägt. Wie sie neben der Uni für knapp 100 Euro im Monat als Kindergärtnerin und Grundschullehrerin arbeitet - und anfangs nicht einmal das Geld hatte, um ihre Stromrechnung zu zahlen. Dass vom Vater selbst dann keine Hilfe kam, als er merkte, dass sie sich bei Kerzenschein auf die Prüfungen vorbereitet. Das nagt immer noch an ihr: "Er hatte doch gesehen, dass ich lerne, dass ich arbeite und zur Uni gehe, dass ich versuche, alles richtig zu machen."

"Mich hat niemand gefragt"

Auch den nächsten "normalen" Schritt verweigert sie: Die Eltern wollen, dass sie ihren langjährigen Freund heiratet, mit dem sie seit der neunten Schulklasse zusammen ist. "Seine Eltern waren Lehrer und Ärztin, also hat es für meine Eltern gepasst." Was für viele rumänische Mädchen das Ticket in die Freiheit ist - und später die bittere Landung in einer neuen Unfreiheit - kommt für Emilia nicht in Frage. Vom Freund hatte sie dabei keine Unterstützung zu erwarten, erzählt Emilia. Der hätte nur gemeint: "Gut, heiraten wir eben, wir bleiben sowieso zusammen." Also begannen ihre Eltern damit, die Hochzeit auszurichten. Alles war fertig: das Essen bestellt, Wein und Schnaps geliefert.

"Ich konnte nicht NEIN sagen, weil mich nie wirklich jemand gefragt hat - auch nicht mein Freund", erzählt sie. Und dass sie es dann auf ihre Art gemacht habe: Als die Eltern mit allen Hochzeitsvorbereitungen fertig waren, leert sie mit ihrem Freund in einer langen Nacht alle Alkoholvorräte - und trennt sich danach von ihm. "Am nächsten Morgen bin ich in den Zug gestiegen und war weg." Unterwegs nach Bukarest, um bei einer Freundin Unterschlupf zu finden. Die Eltern hatten mal wieder nicht geglaubt, dass sie es ernst meinte.

"Dann standen wir auf der Straße"

Und wieder beißt sie sich durch. Erzählt von der Arbeit für einen rumänischen Star-Produzenten, der sie und ihre Freundin 12, 14 Stunden am Tag arbeiten ließ - ohne Bezahlung. Ein richtiges Arschloch sei er gewesen. Wenn sie ihr Geld verlangten, weil es Probleme mit der Miete gab, habe er nur gesagt: "Ich habe mir gerade einen neuen Audi gekauft - das habt ihr mir möglich gemacht. Seid ihr stolz?"

Irgenwann passierte dann das Unvermeidliche: Nachdem sie länger mit der Miete im Rückstand waren, flog sie samt Freundin aus der Blockwohnung. "Wir waren jung genug, um über unsere Situation zu lachen, vielleicht war es aber auch nur der Schock", erzählt Emilia, die damals knapp 22 Jahre alt - und gerade Lichtjahre vom normalen Heltauer Leben entfernt war. Da standen die beiden jungen Dinger in der Nacht mitten in Bukarest und hatten keine Ahnung, in welche Richtung sie gehen sollten. Also setzten sie sich auf den Gehsteig und alberten herum - bis sie eine Frau ansprach, was sie denn um Gottes Willen um diese Zeit dort machten. "Darauf haben wir - aber lachend - gesagt, wir hätten gerade unsere Wohnung verloren, ziemlichen Hunger, und eigentlich wüssten wir auch nicht mehr weiter. Diese Frau hat uns dann für die Nacht zu sich eingeladen." Aus der einen Nacht wurde dann ein halbes Jahr.

"Eltern kann man nie gerecht werden"

Sie erzählt, dass sie zu der Zeit ihren jetzigen Freund getroffen habe und dass die Eltern - natürlich - mit ihrer Wahl nicht besonders glücklich waren. Denn Adrian, genannt 'Adi', ist Musiker und spielt in einer Band. Emilias Eltern wäre ein Arzt oder Anwalt lieber gewesen: "Halt jemanden, der Anzüge trägt". Beim ersten Treffen mit ihren Eltern hatte Adi noch langes Haar und trug eine zerrissene Jeans. Die Eltern seien natürlich überzeugt gewesen, sie würde das nur machem um sie zu ärgern. "Ich glaube, Eltern kann man irgendwie nie gerecht werden. Vielleicht heiraten die Mädchen hier auch deshalb so früh, um dem Elternhaus zu entkommen."

Jetzt arbeitet sie für einen österreichischen Immobilienmakler - "aber nicht nur", wie sie stolz erzählt. Bald wird die Firma, deren Prokuristin Emilia ist, Häuser auch bauen und nicht nur damit handeln. In Cernica, etwa 20 km östlich von Bukarest soll ein Villenviertel entstehen. "Die Preise am Wohnungsmarkt sind seit der Revolution regelrecht explodiert. Vorher konnte man sich ja mit fast nichts ein Haus kaufen", erklärt sie. Und dass sich ihre Eltern gleich nach der Revolution in Heltau eines dieser alten Sachsenhäuser für umgerechnet 5000 Euro gekauft hätten. "Ein riesiges Haus mit sieben Zimmern und großem Hof und Garten. Heute würde die gleiche Immobilie gut 300.000 Euro kosten." Aber damals, so um 1990, hätten alle Rumäniendeutschen weg gewollt und deshalb ihre Häuser zu einem Spottpreis verkauft.

"Für mich ist es normal"

In Bukarest lebt sie sehr zentral im ganzen ersten Stock einer alten Villa. Mit ihrem Freund und einer Katze bewohnt sie knapp 120 Quadratmeter - ein Fläche, auf die sonst drei kleinere Block-Appartments passen. Und ihr ist durchaus bewusst, dass sie für Bukarester Verhältnisse außergewöhnlich lebt - aber etwas anderes kommt für sie nicht in Frage. Sie sei immer daran gewöhnt gewesen, in einem Haus zu wohnen, Platz zu haben, erzählt sie. "Bukarester sind einfach auf diese kleinen Blockwohnungen konditioniert - manchmal leben hier bis zu zehn Personen in einem Appartment. Aber das kann ich nicht, tut mir leid."

Sie erzählt von der Anfangszeit mit Adi, als sie mit ihm in seinem Ein-Zimmer-Appartment im Block wohnte. "Im zehnten Stock, an einer der größten Kreuzungen von Bukarest." Sie erzählt vom Lärm, der Hitze im Sommer und dass man sich dann nicht einmal an die Zimmerwände lehen konnte, weil selbst die schon warm waren. Zwei Monate habe sie nachts nicht schlafen können, sei nicht zur Ruhe gekommen. Und dass sie ohne die jetzige Wohnung sicher schon längst wieder nach Sibiu gezogen wäre. Auch wenn sich derzeit alles, was mit Geschäften zu tun hätte, in Bukarest abspielen würde, "das war mir das Geld nicht wert."

Vieles war Zufall

Denn obwohl ihr Leben sehr durch Zufälle bestimmt wurde, "hatte ich gleichzeitig immer ein Problem mit der Zukunft." War immer von der Angst getrieben, nicht auf den eigenen Füßen stehen zu können. "Ich habe um mich herum genug Beispiele von Leuten, die ihre Rechnungen nicht zahlen können - aber ich sehe gleichzeitig, dass sie auch nicht genug dafür tun."

Deshalb habe sie auch immer gearbeitet - und vielleicht deshalb schon so weit in ihrem Leben. "Ich bin mir sicher, dass in Rumänien gerade viele Leute eine Chance bekommen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Aber es kommt eben auch sehr darauf an, was diese Leute bereit sind dafür zu tun." Wer nicht bereit sei, sich weiter zu entwickeln, habe keine Chance. Wenn schon der Westen Probleme mit der Globalisierung hat - und das, wo doch nach Emilias Meinung hier alle mit dem Kapitalismus aufgewachsen sind - wie flexibel muss dann erst ein Rumäne sein?

Es ist noch sehr viel nicht geregelt

Ihre Haltung zur EU ist trotzdem sehr gespalten. "Hier ist so vieles noch herrlich ungeregelt, es gibt noch viel Freiheit. Jeder kann fischen, campen und grillen wo er will, es gibt keine Vorschriften. Wer ein Pferd hat, darf damit überall reiten - er könnte damit durch die Stadt galoppieren oder über jedes Feld. Das alles wird mit der EU verschwinden", bedauert Emilia. Diese ganze so genannte Zivilisation sei nicht immer toll. Aus Vernunftgründen ist sie dennoch für die EU, weil im Land noch so vieles unterentwickelt ist. Gleichzeitig ist Emilia ein bisschen traurig, dass in Rumänien Handlungen nicht aus eigener Einsicht erfolgen, sondern weil es ein von außen aufgepfropftes EU-Gesetz so will: "Ich kann nur hoffen, dass auf lange Sicht die Vorteile überwiegen werden."

Lesen Sie im nächsten Serien-Teil (Montag), was eine Deutsche in den "wilden Osten" verschlägt, warum jetzt die beste Zeit für Geschäfte ist - und warum das trotzdem ein großes Abenteuer ist.