Sollte Angela Merkel heute Morgen in Delhi beim Frühstück Indiens größte Tageszeitung "Times of India" gelesen haben, muss sie leicht pikiert gewesen sein: Gestern hatte sie Sonia Gandhi, die Vorsitzende der regierenden Kongress-Partei, zu einem Gespräch unter vier Augen getroffen. Auf der Titelseite der Zeitung prangte denn auch Frau Gandhi. Doch sie schüttelte nicht der deutschen Kanzlerin die Hand, sondern dem Kapitän des erfolgreichen indischen Cricket-Teams, dem Lieblings-Spielzeug der Nation. Für den Staatsbesuch blieb nur ein kleines Steckbrief-Foto Merkels ganz oben links übrig.
Das mag einen Stich fürs Ego bedeutet haben, doch im Ganzen kann sich Angela Merkel über mangelnde Wertschätzung bei ihrem Staatsbesuch nicht beklagen. Indische Wirtschaftskreise bezeichneten sie gestern bei einem Treffen als "die stärkste Frau der Welt in diesem Jahr". Der Telekommunikation-Milliardär Sunil Mittal pries ihre große Kooperationsfähigkeit in höchsten Tönen (und vergaß nicht in bester landesüblicher Bescheidenheit zu erwähnen, dass er selbst der Vater des indischen Handy-Wunders sei.)
Sogar Mehdorn amüsierte sich
Angela Merkel quittierte das Lob von allen Seiten mit stillvergnügtem Lächeln und parierte auch den einzigen diplomatisch verbrämten Angriff auf diese Weise. Der indische Wirtschaftsminister mokierte sich über das schleppende Entscheidungs-Tempo der Brüsseler Bürokraten und da musste die Kanzlerin dann doch zurückgeben. Immerhin bestehe die EU aus 27 souveränen Staaten, so viel sie wisse, gehe es im internen indischen Behördenwirrwarr auch nicht gerade blitzschnell voran. Zustimmendes Gelächter der heimischen Unternehmer, die tagtäglich mit antiquierten Regelungen zu kämpfen haben. (So muss etwa im indischen Güterverkehr beim Übertritt von einem Bundesstaat in den anderen Zoll bezahlt werden.)
Auch der Kanzlerin halboffizielles Gefolge, rund dreißig deutsche Wirtschaftsbosse, fühlte sich im jüngsten Wirtschaftswunderland Indien sichtlich wohl. Ganz anders als zu Hause, wo sie sich gegen den Vorwurf wehren müssen, zuvorderst eine Gemeinschaft gieriger Raffzähne zu sein, begrüßte man sie in Delhi als "beklatschte und anerkannte Führer". Das brachte sogar den oft grämlichen Bahnchef Hartmut Mehdorn zum Schmunzeln. Er ist wie die anderen mit auf der Tour, um Geschäftsfelder auszuloten. Sollte die deutsche Bahn - dann als Aktiengesellschaft? - sich an der Sanierung der indischen Eisenbahnen beteiligen, wäre das beim katastrophalen Zustand des Schienentransports noch aus britischen Kolonialtagen zwar ein titanisches Unterfangen. Doch eine Sorge würde Mehdorn nicht plagen. Indische Lokführer erwarten keine dreißigprozentigen Lohnsteigerungen.
Trotz Lob gab es auch Kritik von Merkel
Es war dann aber nicht Mehdorn, der ausgewiesene Fachmann, der auf dem Bahnhof Safdarjung in Süddelhi das Abfahrtssignal für einen girlandengeschmückten Zug gab. Dies machte Angela Merkel selbst, zusammen mit ihrem indischen Amtskollegen, Ministerpräsidenten Manmohan Singh. Denn der Zug, ein indisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt, soll die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern symbolisieren und fördern. Die Wagen des Zugs sind ehrwürdig indischer Eigenbau, der neue blendendweiße Anstrich stammt von der BASF. Der "Science Express" wird in den nächsten Monaten 57 indische Städte anlaufen und vor allem junge Menschen ansprechen. Im Hightech-Stil. Das Innere ist eine interaktive Wissenschaftsausstellung. Hier können sich wissbegierige junge Inder etwa virtuell in die Rolle eines Virus versetzen, der einen menschlichen Körper attackieren will.
Bei aller Euphorie über Indien als Großmarkt und Technologie-Wunderland fand die Kanzlerin aber auch Worte über die "große Armut" weiter Teile der indischen Bevölkerung." Die zeigte man ihr nicht so direkt, aber jeder Staatsbesuch hat wohl ein bisschen mit den Dörfern des Herrn Potjemkin zu tun. Falls Angela Merkel - nach dem kleinen Ärger, es nicht zum Titelphoto gebracht zu haben - in der "Indian Times" weiter gelesen hat, war das ein Ausflug in die alltägliche indische Misere: da ist von Kinderarbeit die Rede - Bezahlung für einen zwölfstüdigen Arbeitstag fünfzehn Rupien, umgerechnet dreißig Cent. Von über 50.000 Bettlern allein in Delhi. Vom Verkehrschaos und Straßenarbeiten, die nie zu enden scheinen. Von beängstigenden Asthma-Raten, die der Abgas-Smog mit sich bringt und von windigen Politikern, die sich jahrelang ungestraft durch das quälend langsame Justizsystem mogeln.
Nächste Station ist Mumbai
Und da steht dann auch, dass Indien trotz aller Bekenntnisse zu Energie-Effizienz und Umweltschutz auch gegenüber der Kanzlerin, laut einem Positionspapier der Regierung nicht bereit sei, "festgeschriebene Eckwerte zu akzeptieren, die seine ökonomische Entwicklung beeinträchtigen könnten."
Heute Mittag wird Angela Merkel nach Mumbai weiterfliegen - der erste deutsche Kanzler, der jemals das Zentrum der indischen Wirtschaft besucht. Dort schaut sie sich zuerst die Finanzgesellschaft an, die Kleinkredite an Arme, besonders an Frauen, zur Gründung einer menschenwürdigen Existenz gibt und am Donnerstag eine staatliche Einrichtung zur Eingliederung spastisch Gelähmter. Außerdem ist sie Ehrengast bei einem Abendessen der "Deutsch-Indischen Handelskammer" und wird bei der Verleihung des "Deutsche Bank Urban Age Awards" eine Rede halten. Mit diesem Preis sollen weltweit "Verantwortungspartnerschaften aus Bürgern, Politikern, Wirtschaft und NGOs ausgezeichnet und ermutigt werden, ihre Städte für das 21. Jahrhundert fit zu machen."
Mumbai ist für diese Preisverleihung keine schlechte Wahl. Die 18-Millionen-Stadt mit ihren riesigen Slums hat es bitter nötig, sich für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Leider wird es Angela Merkel nicht möglich sein, eines der Fitmacher-Programme vor Ort zu sehen. Sicherheitsfragen. Transportprobleme. Gedrängter Zeitplan. Doch wie gesagt, das ist bei Staatsbesuchen wohl immer so.