Schicksale aus 500 Tagen Ukraine-Krieg "Wir sahen ein Loch, eine offene Wunde, in der das Herz des Kindes schlug"

500 Tage tobt nun schon der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Das Leid der Menschen dort ist kaum in Worte zufassen. Doch wer diese Zitate der Opfer und ihre Geschichten liest, bekommt eine Ahnung von dem Grauen, das sie durchmachen.
Als sich die Russen aus dem ukrainischen Butscha zurückzogen, hinterließen sie eine Schneise der Verwüstung
Als sich die Russen aus dem ukrainischen Butscha zurückzogen, hinterließen sie eine Schneise der Verwüstung
© Rodrigo Abd / DPA

Vor 500 Tagen hat Russland die Ukraine überfallen und damit einen Krieg begonnen, der zigtausendfachen Tod, die Zerstörung ganzer ukrainischer Städte und schwerste wirtschaftliche Schäden verursacht hat. Fast 9200 Zivilsten verloren laut Zählung der Vereinten Nationen seither durch die Kremltruppen ihr Leben und rund 16.000 wurden verletzt. Tatsächlich dürften es sogar noch deutlich mehr sein. "Unsere Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs", stellte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, schon vergangenen Februar klar, da nur Fälle registriert würden, die unabhängige Experten individuell bestätigt hätten.

Mit seinem Angriff auf das Nachbarland am 24. Februar 2022 löste Russland die größte Flüchtlingskrise der Welt aus. Sechs Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind nach UN-Angaben Vertriebene im eigenen Land, 4,8 Millionen Menschen haben außerhalb der Ukraine Schutz beantragt. Von den ehemals 43 Millionen Einwohnern sind nur noch etwa 36 Millionen in der Ukraine. Die Hälfte von ihnen benötigt Hilfe. "Das Leiden der ukrainischen Bevölkerung ist alles andere als vorbei", mahnte UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths im Februar. "Auch nach fast einem Jahr verursacht der Krieg weiterhin täglich Tod, Zerstörung und Vertreibung in einem erschütternden Ausmaß."

Museum of Civilian Voices bietet traumatisierten Ukrainern eine Plattform

Dieses Ausmaß begreiflich zu machen, versucht das Museum of Civilian Voices. Das von einer Stiftung des Milliardärs und reichsten Ukrainers Rinat Achmetow gegründete Online-Museum sammelt seit der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim durch Russland im Jahr 2014 Stimmen und Schicksale ziviler Kriegsopfer. Es will nach eigener Aussage den vom Krieg traumatisierten Ukrainern und Ukrainerinnen eine Plattform bieten, auf der sie ihre Erlebnisse erzählen können und "auf der diese schrecklichen Geschichten als heilsame Lektion für künftige Generationen bewahrt werden".

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"Die Mission des Museums besteht darin, die Geschichten der ukrainischen Zivilbevölkerung zu sammeln, zu archivieren, zu kategorisieren und weiterzugeben, um das Leben inmitten des Krieges im Namen einer besseren Zukunft besser zu verstehen", beschreibt die Einrichtung ihren Zweck. Jeder kann demnach seine Geschichte auf Video, Audio oder in schriftlicher Form schildern und auf der Webseite des Museums einreichen.

Zehntausende Menschen haben dies bereits getan. Ihre Erzählungen geben einen zutiefst erschütternden Einblick in den Horror, den Russlands Präsident Wladimir Putin mit seiner Invasion über die Menschen in der Ukraine gebracht hat. Niemand, der Krieg nicht am eigenen Leib erfahren hat, wird wohl nachempfinden können, was er wirklich bedeutet. Doch die Zitate und Berichte aus dem Museum of Civilian Voices bestätigen, was der 15-jährige Wladislaw Nelipa aus Marjinka auf der Webseite als Botschaft hinterlassen hat: "Krieg ist eines der schrecklichsten Dinge, die passieren können."

Eine Auswahl:

"Meine Mutter lag blutüberströmt auf dem Kühlschrank. Mein Bruder hatte keine Beine mehr. Unsere Tochter atmete noch"

Ukraine: "Meine Mutter lag blutüberströmt auf dem Kühlschrank, mein Bruder hatte keine Beine mehr. Unsere Tochter atmete noch"
© Museum of Civilian Voices

Iwan Simoroz aus Borodianka in der Oblast Kiew: Eine russische Bombe traf Iwans Haus in den ersten Tagen der Invasion, während er nicht daheim war. Im Alter von 26 Jahren verlor der Polizist seine Tochter, seine Frau, seine Eltern, seinen Bruder und seine Großmutter. Die einjährige Polina atmete noch, als sie unter den Trümmern hervorgeholt wurde, verstarb aber noch am selben Tag im Krankenhaus. Am Abend brachte Iwan die sechs Menschen, die ihm am meisten am Herzen lagen, ins Leichenhaus. Journalisten des Kiewer Fernsehsenders besuchten im Mai 2022 den Schauplatz der Tragödie und Iwan erzählte ihnen seine Geschichte.

"Meine Mutter lag blutüberströmt auf dem Kühlschrank ohne Lebenszeichen. Etwa 200 Meter vom Haus entfernt saß ein Hund. Es war der Hund meines Bruders. Er saß in der Nähe meines Bruders. Mein Bruder hatte keine Beine mehr. Wir gingen sofort auf den Hund zu und sahen, dass mein Bruder dort lag und keine Beine mehr hatte. Er war etwa 200 Meter von hier entfernt, auch ohne Lebenszeichen.

Nach einiger Zeit haben wir dann meine Großmutter hier gefunden. Wir haben hier einige Trümmer weggeräumt und entfernt. Wir haben meine Großmutter gefunden, und auch sie gab kein Lebenszeichen von sich. Zwei Stunden später fand meine Tante Ira das Baby hier auf dem Ecksofa. Das heißt, die kleine Polina lag auf dem zertrümmerten Ecksofa und atmete kaum noch. Mein Freund Jura hat sie sofort ins Krankenhaus gebracht, er hat sie ins Krankenhaus gebracht. Sie ist am Abend gestorben, sie ist um acht Uhr abends verstorben. Das ist schrecklich ... Dann, etwa eine Stunde später, fanden wir meine Frau Olena, etwa hier, wo der Baum steht. Wir fanden meine Frau in der Nähe dieses Baumes, ebenfalls ohne jedes Lebenszeichen. Etwa 30 Minuten später fanden wir meinen Vater in der Nähe des Aprikosenbaumes. Dann habe ich am Abend alle Leichen in die Leichenhalle gebracht und das war's. Es war wahrscheinlich der erste Luftangriff. Das erste gesprengte und zerstörte Haus. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Genau hier, am 26. Februar, gegen 11 oder 12 Uhr.

Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, klammerte sich meine kleine Tochter an mein Bein und meine Frau kam mir entgegen. Früher war alles in Ordnung. Jetzt ist alles schlecht geworden. [...] Ich weiß nicht, wie ich nach dieser Sache weiterleben soll. Ich weiß es nicht ... Die Menschen brauchen jetzt Hilfe. Jeder braucht Hilfe. Sehr viele Menschen brauchen Hilfe. Einige haben ihr Hab und Gut verloren, andere haben ihre Familienmitglieder oder Verwandten verloren. Ja, in der Tat, und alle meine Kollegen auch ..."

"Sie stürmten zu seinem Haus und erschossen ihn direkt in seinem Rollstuhl"

"Sie stürmten zu seinem Haus und erschossen ihn direkt in seinem Rollstuhl"
© Museum of Civilian Voices

Oleksandr Kononow aus Severodonetsk in der Oblast Luhansk: Der Reporter Oleksandr Bilokobylskyi schilderte Kononows Tod im Mai 2022 auf Facebook. Sanych, wie ihn seine Freunde nannten, hatte seit 2014 die Stellungen der ukrainischen Armee mit notwendigen humanitären Lieferungen versorgt, war damals von Separatisten der völkerrechtlich nicht anerkannten Volksrepublik Luhansk gefangen genommen worden – und wurde im März an die russischen Truppen verraten.

"Sanych. Im Kerker wurde er Terminator genannt – er wurde 2014 gefangen genommen, als er unseren Kämpfern Hilfe brachte. Er hatte nur noch einen Arm und ein Bein. Trotzdem wurde er Terminator genannt, nicht wegen dieser Tatsache, sondern weil er unbesiegbar war.

Nachdem er aus der Gefangenschaft befreit worden war, begann er sein Leben in der Region Zhytomyr neu – er begann mit der Landwirtschaft und kümmerte sich um Ziegen und Schafe. Er hatte eine kleine Käsemanufaktur. Später kehrte er in die Region Luhansk zurück, wo er in Borivske in der Nähe von Sewerodonezk lebte, bis er ermordet wurde.

Am 13. März wurde Oleksandr von den russischen Invasoren in seinem eigenen Haus getötet. "Sie stürmten zu seinem Haus und erschossen ihn direkt in seinem Rollstuhl. Sie kamen gezielt; einige örtliche Kriegstreiber sagten ihnen, wohin sie gehen sollten [...].

Wir werden siegen, Sanych. Alle Bastarde werden bestraft werden. Sie alle.

Ruhe in Frieden!"

"Mein Sohn nimmt seine Mütze ab, und alle seine Haare sind grau. Das Kind ist erst acht Jahre alt"

"Mein Sohn nimmt seine Mütze ab, und alle seine Haare sind grau. Das Kind ist erst acht Jahre alt" 
© Museum of Civilian Voices

Tatiana Vovk, eine Geflüchtete aus Mariupol: Tatiana schilderte dem Museum of Civilian Voices im Juli 2022 ihre Kriegserlebnisse.

"Sie haben nicht geschlafen und nicht gegessen, sondern waren nur damit beschäftigt, uns zu töten. Aber das Leben gab uns die Chance, das Haus zu verlassen, und nachts schlug eine Granate ein. [...]

Die schwierigste Situation war, als ich nach dem 8. März feststellte, dass ich für meinen Sohn und meine Tochter Namensschilder mit Kontaktangaben schreiben musste. Mein Sohn ist acht Jahre alt und das kleine Mädchen ist erst acht Monate alt. Es war eine persönliche Tragödie für mich, meinem Kind zu sagen, dass ich womöglich nicht fliehen könnte sondern sterben würde. Ich hatte einen Gedanken im Kopf: Wir sollten lieber alle zusammen sterben, damit wir das alles nicht miterleben, oder wenn es nur so schnell wie möglich zu Ende gehen könnte. [...]

Eine Granate schlug in der Nähe unseres Hauses ein. Es war dunkel, Schlammstücke flogen, ich konnte meinen Mann nicht sehen. Ich rief nach der Patentante meines Kindes, um zu sehen, ob sie noch lebten, und hörte als Antwort Stille. Sie waren draußen gewesen und nun herrschte Totenstille. Es schien, als sei ich gestorben. Dann riefen sie zurück: "Wir sind am Leben!" Ich sah meinen Sohn, der fragte: "Mama, wir werden doch nicht sterben, oder?" "Nein". Er nahm seine Mütze ab und ich sah, dass sein ganzes Haar grau war, obwohl er erst acht Jahre alt ist."

"Wir sahen ein Loch, eine offene Wunde, in der das Herz des Kindes schlug"

Schicksale aus 500 Tagen Ukraine-Krieg: "Wir sahen ein Loch, eine offene Wunde, in der das Herz des Kindes schlug"
© Museum of Civilian Voices

Sergej Chornobryvets, ebenfalls aus Mariupol: Sergej ist Rettungssanitäter. Am ersten Tag des Krieges eilte er ins Krankenhaus und arbeitete 22 Tage durch.

"Es gab einen Fall, der mir besonders in Erinnerung geblieben ist. Es war der Fall eines verletzten siebenjährigen Mädchens, das zur Krankenstation gebracht wurde. Sie wurde entweder von ihren Eltern oder von Bekannten in einem Personenwagen gebracht. Es war ein schwieriger Fall, denn alle schrien und waren hektisch ...

Wir stiegen sofort in das Auto ein. Sie lag auf dem Rücksitz auf dem Bauch. Ein siebenjähriges Mädchen. Und wir sahen Blut auf ihrem Rücken, auf ihrem Pullover. Schnell beschlossen wir, den Pullover aufzuschneiden. Und wir alle sahen ein Loch, eine offene Wunde, in der das Herz des Kindes schlug. Wir sahen es und waren alle für einen Moment wie erstarrt. Wir sahen es und waren fünf Sekunden lang wie betäubt. Natürlich war es schwer für uns, es zu sehen – dass sie lebte und ihr Herz durch die offene Wunde schlug.

Nun, ich erinnere mich, dass Oleksandr Konowalow damals der Älteste im Team war. Er sagte: 'Okay, Leute, lasst uns anfangen'. Und das war's. Alle sind sofort in Aktion getreten. Einige von uns haben die Blutung gestoppt, andere haben sich um die Wunde gekümmert. Jemand legte den venösen Zugang und jemand betäubte die Patientin. Das heißt, jeder kannte seine Aufgabe, und das hat sie im Grunde genommen gerettet.

Sie ist übrigens am Leben. Mit ihr ist alles in Ordnung. Ich habe sie sogar gesehen, ich habe sie später im Krankenhaus besucht und sie hat mir eine Zeichnung gegeben."

"Danke, Mama, für die besten 9 Jahre meines Lebens!"

Schicksale aus 500 Tagen Ukraine-Krieg: "Wir sahen ein Loch, eine offene Wunde, in der das Herz des Kindes schlug"
© Museum of Civilian Voices

Galja aus Borodianka in der Oblast Kiew: Am 8. März schrieb die neunjährige Galja ihrer von der russischen Armee getöteten Mutter einen Brief, in dem sie ihr dankte und versprach, sich gut zu benehmen, um sie eines Tages im Paradies wiederzusehen. Im Mai 2022 erzählte Julia Efremowa dem Museum of Civilian Voices von dem Mädchen und seinem Brief. 

"In Anbetracht des bevorstehenden Muttertages möchte ich zwei sehr persönliche Geschichten von zwei Mädchen erzählen, die ihre Mutter verloren haben. Für das erste Mädchen begann die Geschichte an einem sonnigen, frostigen Novembertag. Sie war 17 Jahre alt und besuchte an jenem Morgen eine Mathematikstunde, ohne zu ahnen, dass ihre Welt gerade durch den Tod ihrer Mutter in Stücke zerbrochen war. Dieses Mädchen war ich.

Vielleicht erzähle ich eines Tages mehr über das lähmende Gefühl, jemanden zu verlieren, der so wichtig und absolut unersetzlich ist, darüber, dass dies das Schwerste war, was ich je durchmachen musste, und wie dieser Tag mein Leben in ein 'Vorher' und ein 'Nachher' teilte. Aber jetzt möchte ich die Geschichte des zweiten Mädchens mit Ihnen teilen.

Ihr Name ist Galja, und sie war 9 Jahre alt, als die Russen ihre Mutter in Borodianka in der Region Kiew töteten. Galja und ich haben unsere Mütter auf unterschiedliche Weise verloren, aber der Brief, den sie ihrer verstorbenen Mutter als Geschenk zum 8. März geschrieben hat, hat mich so sehr berührt, dass ich es hätte sein können, der diese Worte schreibt.

Und ich bitte Euch um 2 Dinge:

1. Lest Galjas Brief an ihre Mutter

2. Wenn ihr könnt, umarmt/küsst eure Mutter oder jemanden, der wie eine Mutter für euch ist, an diesem Muttertag, oder ruft sie an, für all die Kinder, die das nur in Gedanken und Träumen tun können.

'An meine Mutter.

Dieser Brief ist mein Geschenk für dich zum 8. März. Wenn Du denkst, dass Du mich umsonst großgezogen hast, liegst Du nicht richtig. Ich danke Dir für die besten 9 Jahre meines Lebens! Ich danke Dir sehr für meine Kindheit.

Du bist die beste Mutter der Welt. Ich werde Dich nie vergessen. Ich wünsche Dir, dass Du im Himmel glücklich bist! Ich wünschte, Du könntest in den Himmel kommen! Ich sehe Dich im Himmel! Ich werde mein Bestes geben, um gut zu sein und in den Himmel zu kommen.

Küsse. Galja.'"

"Drei Generationen meiner Familie sind gestorben. Ich bin der Einzige, der übrig geblieben ist"

Ukraine: "Drei Generationen meiner Familie sind gestorben. Ich bin der Einzige, der übrig geblieben ist"
© Museum of Civilian Voices

Wladimir Obodzinski aus Jurjiwka in der Oblast Dnipropetrowsk: Im Alter von 42 Jahren verlor Wladimir seine gesamte Familie, einschließlich seiner erst gut ein Jahr alten Zwillingsenkelkinder, als ein russisches Flugzeug zwei halbtonnenschwere Bomben auf das Haus abwarf, in dem die Obodzinskis lebten.

Wladimir selbst war zum Zeitpunkt der Bombardierung beruflich in Kiew. Am Morgen des 24. Februar 2022 war er zu seiner Arbeitsschicht gefahren. Er war die ganzen Tage über in Kontakt mit seiner Familie geblieben. Am Abend des 8. März antworteten seine Frau und seine Kinder nicht mehr auf seine Anrufe.

Der Helfer, der die Leichen der Enkel von Wladimir Obodzinski fand, konnte danach einen Tag lang nicht mehr sprechen.

"Bei dem Angriff wurden meine Frau Natalja Obodzinski, die 40 Jahre alt war, und mein Sohn Wladimir Wladimirowitsch Obodzinski getötet. Alle lachten über uns, denn er hieß Wladimir Wladimirowitsch und ich bin auch Wladimir Wladimirowitsch. Er wurde am 28. Juli, dem Tag von Wladimir (Feiertag zum Gedenken an den Kiewer Großfürsten Wladimir I., Anm. d. Red.) geboren. Er wäre in diesem Jahr 15 Jahre alt geworden. Die Bomben haben auch meine Tochter Ivanna Obodzinski, Nicole Daineko und Denys Daineko (die Enkelkinder, Anm. d. Red.) getötet. Nur unsere Katze, unser Hund und ich sind von unserer Familie übrig.

Der Hund lief am zweiten Tag nach der Explosion nach Hause zurück, genau zu dem Zeitpunkt, als ich kam. Ich brachte ihn zu meinen Eltern, aber die Katze konnte ich lange Zeit nicht finden. Und als ich sie fand, weigerte sie sich, sich zu nähern und auf den Arm genommen zu werden. Wir bauten dieses Haus im Laufe von zehn Jahren. Es hatte drei Schlafzimmer. Eine der Fliegerbomben landete direkt neben dem Schlafzimmer meines Sohnes. Das war am 8. März, gegen 21 Uhr." [...]

Niemand lebt ewig, und auch meine Zeit wird kommen  ein Platz [auf dem Friedhof] ist bereits für mich vorbereitet. Aber die Erinnerung muss bleiben, damit die Generationen davon wissen können. Jahrhunderte werden vergehen, aber die Erinnerung daran, was die 'russische Welt' ist, sollte bleiben. Sie sind nicht einmal ein Schimpfwort wert. Generationen und Jahrhunderte werden vergehen, aber die Menschen sollten wissen, was die 'russische Welt' ist und wem sie in diesem Leben 'geholfen' hat.

"Ich sah die Beine meiner Tochter. Es waren keine Turnschuhe daran, als hätte sie jemand abgeschnitten"

Ukraine: "Ich sah die Beine meiner Tochter. Es waren keine Turnschuhe daran, als hätte sie jemand abgeschnitten"
© Museum of Civilian Voices

Natalia Stepanenko, Kramatorsk: Am 8. April 2022 wartete Natalia mit ihrem Sohn, ihrer Tochter und Hunderten anderen Menschen am Bahnhof von Kramatorsk, um vor dem Krieg zu fliehen, als eine russische Rakete in der Menge einschlug. Bei dem Angriff wurde ihr ein Fuß abgerissen. Ihre elfjährige Tochter Jana verlor beide Füße.

“Als ich wieder bei Sinnen war, summten und klingelten meine Ohren. […] Ich wollte aufstehen, aber ich konnte nicht. Nun, dann habe ich mir meine Beine angesehen. Eines von ihnen war in Ordnung. Darunter war nur etwas Blut und an meiner Sporthose waren einige Stofffetzen herausgerissen. Was mein anderes Bein betrifft, mein Hosenbein war bis zum Knie durchlöchert und zerfetzt und mein Fuß baumelte daran.

Ich begann, nach Jana zu suchen. Ich drehte mich um und fand sie auf Oma Tanja liegend. Die Druckwelle hatte Oma Tanjas Körper vom Bahnsteig geschleudert. Jana war näher bei mir, einen oder anderthalb Meter entfernt. 'Oma Tanja!' – Ich schüttelte sofort ihren Körper, aber sie war schon tot.

Jana rutschte von Oma Tanjas Körper runter. Sie kroch ein wenig zur Seite und sagte: 'Mama, ich sterbe.' Ich sagte: 'Nein.' [...] Polizisten rannten herbei und legten Aderpressen an Janas Beinen an. Woran ich mich erinnere: Als ich sie ansah, hatte sie ihre Turnschuhe einfach nicht an. Ich sah die Knochen und ihr Bein in der Leggings. Tatsächlich waren ihre Leggings fast intakt. Es waren einfach keine Turnschuhe daran, als hätte sie jemand mit einem Schwert abgeschnitten."

Gut einen Monat nach der Bombardierung von Kramatorsk starb Natalias Ehemann im Krieg.

"Er hatte 20 Minuten Zeit, um die Überreste seines Freundes einzusammeln und zu begraben"

"Er hatte 20 Minuten Zeit, um die Überreste seines Freundes einzusammeln und zu begraben"
© Museum of Civilian Voices

Mykola aus Butscha: Alexey Prshemisky erzählt im April 2022 die Geschichte seines Helden aus der Stadt nordwestlich von Kiew.

"Das ist Mykola. Er ist 53 Jahre alt. Er wohnt in der Stadt Butscha. Mykola stottert stark. Er beginnt erst zu sprechen, wenn er sich eine Zigarette anzündet. Er wohnt seit 34 Tagen im Keller. Er könnte gehen, aber der Mann ist Hausverwalter in einem fünfstöckigen Gebäude. Er sagt, er konnte nicht anders, als bleiben. Am ersten Tag der Kämpfe in Butscha schlug eine Granate in sein Fenster ein, durchschlug die Wand und blieb im Bett eines Kindes stecken, das Feuer fing. Zum Glück hatte Mykola die Kinder zu diesem Zeitpunkt bereits evakuiert. Sie löschten das Feuer, und gleich danach brachten sie zusammen mit drei Freunden alle älteren Menschen und Frauen in den Keller und zogen selbst dorthin.

Als die Russen die Stadt besetzten, begannen sie, in jedes Haus einzubrechen. Die Männer wurden nach draußen gebracht, ausgezogen und auf Tätowierungen am Körper untersucht. Zwei von Mykolas Freunden, Leonid und Serhiy, waren über 50 Jahre alt. Ein anderer, ebenfalls Leonid, war viel jünger. Nachdem sie den Pass des jüngeren Leonid überprüft hatten, sagten sie, dass er jünger als 50 sei, also ein Soldat sein könnte. Sie drückten ihn auf die Knie und schossen ihm in den Kopf. Leonid war der erste, den Mykola beerdigte. Er begrub ihn direkt auf dem Hof, in der Nähe des Umspannwerkes. Ein Blutfleck ist noch immer am Tatort zu sehen. Ein paar Tage später starb auch Serhiy. Der Mann ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen, und wurde erschossen. Einfach so, ohne Grund. Ohne ein Wort oder eine Warnung.

Als die Kämpfe zunahmen, schienen die Russen verrückt geworden zu sein, sagt Mykola. Vorher kamen die Leute manchmal aus den Kellern, um etwas zu kochen oder einfach nur frische Luft zu schnappen. Doch dann beschlossen sie, sich einzuschließen. Gegen Abend begannen die Soldaten zu klopfen – sie schrien und verlangten, die Tür zu öffnen. Wahrscheinlich wollten sie einbrechen, um alle zu erschießen, bevor sie die Stadt verließen. Dies geschah in einem der Häuser in der Nachbarstraße, erzählt der Mann.

Nachdem es ihnen nicht gelungen war, die Tür aufzubrechen, warfen sie eine Granate auf die Treppe. Auf der anderen Seite hielt der zweite Leonid die Eingangstür fest. Er war der einzige Mann, der zusammen mit Mykola am Leben geblieben war. Es folgte eine Explosion und danach wurde es still. Sein Körper lag einen ganzen Tag lang auf der blutverschmierten Treppe. Erst am nächsten Tag klopfte es wieder an die Tür, eine Stimme sagte, ihr habt 20 Minuten Zeit, um alles aufzuräumen. Dann kam Mykola heraus und sah, dass seinem Freund der Kopf abgerissen und die Beine zerschmettert worden waren.

Mykola sammelte die Überreste des Körpers in einem Sack ein und hob ein neues Grab aus. Es war das dritte. Er sagt, dass er nicht tief genug in den Boden graben konnte. Es war nicht genug Zeit, und er ist schon etwas zu alt, um das zu schaffen. Deshalb ist seine größte Sorge jetzt, dass bei Regen der Sand weggespült wird und streunende Hunde kommen.

Es muss leicht sein, inmitten von Schrecken, Schmerz und Tod die Hoffnung zu verlieren, aber heute ist Mykola mein Held. Obwohl er das Schlimmste in den Menschen gesehen hat, hat er selbst seine Menschlichkeit nicht verloren. Als er mit uns vor der Kamera sprach, konnte er seine Tränen kaum zurückhalten, und als die Aufnahme zu Ende war, brach er in Tränen aus und dankte uns einfach dafür, dass wir seine Geschichte gehört hatten. Wenn man sich die Massengräber ansieht, wo steife Hände unter dem Sand hervorlugen, kann man leicht den Glauben an die Menschheit verlieren, aber es sind Menschen wie Mykola, die diesen Glauben wiederherstellen."