Außenstehenden mag es vorkommen wie ein Sturm im Wasserglas. Doch in der Türkei, die am Mittwoch den 80. Jahrestag der Ausrufung der Republik durch Mustafa Kemal Atatürk feiert, wiegen Symbole schwer. Und an keinem dieser Symbole scheiden sich die Geister in der entschiedener denn je in die Europäische Union drängenden Türkei stärker als am islamischen Kopftuch. Das symbolträchtige Stück Stoff, das seit der Regierungsübernahme der islamisch-konservativen AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wieder in den Mittelpunkt des Ringens um Tradition und Moderne getreten ist, hat unfehlbar dafür gesorgt, dass auch über den Jubiläumsfeiern dunkle Gewitterwolken aufgezogen sind.
Kein Kopftuch im Präsidentenpalast
Als Auslöser für das politische Sturmtief betätigte sich Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer, als er die Einladungskarten für den Jubiläumsempfang im Präsidentenpalast in Ankara verschickte und unmissverständlich zu verstehen gab, dass dort Ehefrauen von Abgeordneten und Ministern, die das Kopftuch tragen, keinen Zutritt haben. Während die Abgeordneten der oppositionellen Republikanischen Volkspartei CHP, der einstigen Atatürk-Partei, ihre "unverdächtigen" Frauen mitbringen dürfen, erhielten fast alle AKP-Abgeordneten vorsorglich Einladungen, die allein auf ihren Namen ausgestellt wurden.
Auf den Sturm der Entrüstung, auf den Vorwurf der Diskriminierung und Selbstherrlichkeit ging der Staatspräsident, der sich mit seinen selektiven Einladungen als linientreuer Vertreter der Verfechter des Atatürk’schen Erbes hervortat, mit keinem Wort ein. Regierungschef Erdogan, der in Sachen Kopftuch auf eine Politik der kleinen Schritte setzt, hielt sich betont zurück, wohl um nicht zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen. Doch Kritik kam nicht nur aus dem Regierungslager. Liberale Kreise warfen den kemalistischen Gralshütern vor, die von Atatürk verordnete Modernität zu eng zu interpretieren und sich an Äußerlichkeiten festzuklammern.
Ins gesellschaftliche Abseits gedrängt
Mit dem Ziel, Arzt, Richter, Anwalt, Ingenieur oder Lehrer zu werden, täten die Frauen doch gerade das, was sich die Republik von ihnen gewünscht habe, schrieb die Zeitung "Radikal". Dagegen werde die wachsende Zahl derer, die das Kopftuch tragen wollten, wegen des Kopftuchverbots an den Hochschulen ins gesellschaftliche Abseits gedrängt. "Im Grunde missachtet der Staatspräsident die Werte, die er zu verteidigen vorgibt", schlussfolgerte das Blatt.
Um den in der Verfassung verankerten Laizismus (Trennung von Staat und Religion) wird in der Türkei in diesen Tagen noch an anderer Front gekämpft. Gegen eine von der islamisch-konservativen Regierung geplante Hochschulreform gingen am Wochenende Zehntausende - Rektoren, Hochschulangehörige und Studenten - in Ankara auf die Straße. "Armee, tue Deine Pflicht", forderten einige, die von den Veranstaltern allerdings schnell zurückgepfiffen wurden. Dreimal, 1960, 1971, 1980, hat die türkische Armee in den 80 Jahren der türkischen Republik geputscht, wenn sie das Erbe Atatürks in Gefahr sah. Zumindest die EU dürfte den großen politischen Einfluss, den die türkische Armee trotz jüngster Reformen weiterhin ausübt, kritischer sehen als den hehren Prinzipien-Streit um das Kopftuch.