Ischingers Welt "Sicherheitsgarantien, die nur auf Papier stehen, sind nichts wert"

Wolfgang Ischinger Merz Putin Trump
Langjähriger Diplomat mit Blick fürs Ganze – von Merz bis Trump, von Putin bis Xi: Wolfgang Ischinger
© stern-Montage: Fotos: Imago; Getty Images
Wolfgang Ischinger ist einer der erfahrensten deutschen Diplomaten. Für den stern blickt er hinter die Fassaden: Wie realistisch ist ein Abkommen für einen Frieden in der Ukraine?

Herr Ischinger, auf der Suche nach einem Frieden für die Ukraine stehen zwei Konzepte nebeneinander: Russland fordert einen umfassenden Deal über die zukünftige Sicherheitsarchitektur in Europa, in Putins Worten „die Grundursache für diesen Konflikt“. Die Europäer wiederum sagen schlicht: Schluss mit dem Krieg. Gibt es da überhaupt Spielraum? 
Was mich besorgt, ist die russische Langzeitstrategie, wie sie in den beiden Memoranden zum Ausdruck kam, die im Dezember 2021 – also kurz vor der Großinvasion – an die USA und die Nato gerichtet wurden. Sie sieht vor, die Rolle Amerikas in Europa zu beschränken, wenn möglich zu eliminieren, und dadurch die russische Herrschaft über die eigene Nachbarschaft wiederherzustellen. Auf amerikanischer Seite wird nicht hinreichend gesehen, dass dieser Deal, der da zwischen Putin und Trump angesprochen wird, die Umsetzung dieser russischen Strategie ist. Wenn MAGA-Leute sagen: „Wir haben mit diesem Ukrainekrieg nichts zu tun, das ist Sache der Europäer“, haben sie offenbar die letzten 80 Jahre der transatlantischen Beziehungen nicht verstanden. Es geht um die Rolle der USA, denn ohne die europäische Präsenz und ohne die Rolle Amerikas im Indopazifik ist es aus mit der Weltmachtrolle der USA. 

Könnten die USA und Russland neue Vereinbarungen über eine Waffenkontrolle treffen, also dass etwa Russland seine Raketen aus Kaliningrad abzieht und dafür die Amerikaner Abwehrsysteme in Rumänien oder Polen abbauen?
Die Chance dafür wäre umso größer, wenn es zumindest zu einer belastbaren ersten Runde einer Waffenstillstandsvereinbarung käme, auf der man aufbauen könnte. Aber der Weg von Krieg zu Frieden in der Ukraine ist kein 100-Meter-Lauf, sondern ein Marathon mit Hindernissen. 

Wolfgang Ischinger
© Lennart Preiss / DPA

Zur Person

Wolfgang Ischinger war von 2001 bis 2006 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in den USA, von 2006 bis 2008 dann in Großbritannien. Anschließend übernahm er die Leitung der Münchner Sicherheitskonferenz, die er bis heute führt. 


 


Sehen Sie bei den beiden großen Knackpunkten – territoriale Fragen und Sicherheitsgarantien – mögliche Lösungen? 
Die geforderte Aufgabe von ukrainischem Territorium ist das schwierigste Thema. Falls man überhaupt darüber spricht, den De-facto-Verlust etwa der Krim auf dem Papier festzuschreiben, muss man deutlich machen, dass es nicht um eine völkerrechtlich verbindliche Anerkennung dieser illegalen Annexion durch Russland geht, sondern allenfalls um eine De-facto-Kenntnisnahme eines militärisch-politischen Zustands. Ich weise darauf hin, was Russland hier fordert: Die Ukraine soll Gebiete abgeben, die sie heute unter Kontrolle hat. Das ist inakzeptabel! Da leben Hunderttausende von Menschen in einem Gebiet, das von der ukrainischen Polizei und Verwaltung versehen wird, und die russische Seite sagt: Das hätten wir gerne noch zusätzlich zu dem, was wir militärisch besetzt haben. Ich möchte mal den Staatschef sehen, der eine Operation politisch überlebt, bei der er freiwillig Hunderttausende Landsleute einem bekannt repressiven russischen System unterwirft. Deshalb ist es wichtig, dass Selenskyj mit voller europäischer Unterstützung sagt: Die einzige Linie, über die wir überhaupt reden können, ist die aktuelle Frontlinie.

Sehen Sie mögliche Kompromisse bei der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine? 
Daraus wird also leider nichts, und deshalb muss man nach Alternativ-Möglichkeiten suchen. Die Debatte über Nato-ähnliche Sicherheitsgarantien ist äußerst problematisch: Alles, was nur auf Papier steht, ist nichts wert. Ein Schuh wird nur draus mit dem Stachelschwein-Modell: Die Ukraine bekommt also die modernste, größte und stärkste Armee Europas, an die sich keiner heranwagt, auch nicht Russland. Das ist im Kern die Ersatzstrategie für die nicht realsierbare Nato-Mitgliedschaft. Dazu müssten auch die USA das Nötige beitragen. Sonst haben wir in zwei, drei oder vier Jahren einen erneuten Angriffsversuch Putins, um die politische Unterjochung der Ukraine zu verwirklichen. 

Trumps Sondergesandter Steven Witkoff hat behauptet, Putin hätte zugestimmt, dass die USA und Europa der Ukraine Sicherheitsgarantien "in der Art" des Nato-Artikels 5 geben. Was halten Sie davon? 
Die Nato-Sicherheitsgarantie ist relevant, weil sie seit 80 Jahren gestützt ist durch die Präsenz von Zigtausenden, zeitweise Hunderttausenden von US-amerikanischen und auch britischen und französischen Soldaten in Zentraleuropa. Wir haben hier seitdem amerikanische Nuklearwaffen stationiert. Das ist der eigentliche Inhalt, der Sicherheit garantiert, doch nicht das Papier! Sicherheitsgarantien auf dem Papier sind dann wirksam, wenn sie durch konkrete militärische, glaubwürdige Präsenzen und Ausrüstung unterfüttert sind. 

Karte besetzte Gebiete Ukraine
Von der Krim bis in den Donbas: Etwa 20 Prozent des ukrainischen Territoriums werden derzeit von Russland kontrolliert
© stern / Bettina Müller

Manche sprechen von einer möglichen Stationierung europäischer Truppen in der Ukraine.
Hier kann ich nur warnen. Welche europäischen Staaten wären überhaupt bereit und in der Lage, Truppen in die Ukraine zu schicken? Unter welchen Bedingungen würde sich Russland darauf als Teil eines Waffenstillstandsabkommens einlassen? Denn aus russischer Sicht wäre das fast gleichbedeutend mit der Präsenz von Nato-Truppen. 

In der Ukraine wird auch eine beschleunigte EU-Mitgliedschaft als Sicherheitsgarantie gesehen. Ist Europa dazu bereit?
Das wird ein langer, beschwerlicher Weg. Es gibt viele Fachleute, die besorgt gen Himmel schauen: Wenn die Ukraine EU-Mitglied wird, mit ihrer riesigen landwirtschaftlichen Fläche, werden große Mengen an EU-Geldern ins Land fließen. Von Vorwürfen der Korruptionswirtschaft will ich gar nicht sprechen. Übrigens gibt es ein halbes Dutzend Balkanstaaten, die seit mehr als 20 Jahren darauf warten, in die EU aufgenommen zu werden. Aber die Ukraine hat unser Wort, dass sie auf dem Weg zu einer Mitgliedschaft ist. Klar ist aber auch, dass – Stand jetzt – Europa die Sicherheit der Ukraine allein nicht garantieren könnte. Die Beistandsklausel der EU wäre – noch – nur eine Garantie auf Papier. 

Experten weisen darauf hin, wie wichtig die vertrauensvolle Beziehung zwischen Michail Gorbatschow und Helmut Kohl für die Erlangung der deutschen Wiedervereinigung war. Ist es nicht positiv, wenn sich zwischen Trump und Putin eine ähnlich vertrauensvolle Beziehung abzeichnet? 
Angela Merkel sagte während der Minsk-Verhandlungen mit Putin vor zehn Jahren: „Ich weiß ja, dass er mich ständig anlügt.“ Wenn man es mit einem Verhandlungspartner zu tun hat, von dem man weiß, dass der weiter gehende Ziele verfolgt, denen er alles andere unterordnet, nützt die netteste Umarmungsgeste oder ein gemeinsamer Sauna-Besuch zwischen zwei Männerfreunden gar nichts. Das war im Verhältnis Gorbatschow-Kohl oder Jelzin-Clinton etwas anderes. Da galt sozusagen das Männerwort und man konnte darauf bauen. Ich habe nicht den Eindruck, dass man sich auf eine mündliche Aussage des russischen Präsidenten verlassen kann. Aus der Rüstungskontrolle gibt es den schönen Satz: Don’t trust, verify. So müssen wir mit Russland umgehen: Wir müssen einander nicht vertrauen, sondern wir müssen das, was wir vereinbart haben, überprüfen können. 

Man hat beinahe das Gefühl, dass sich die Geschichte wiederholt, aber diesmal andersherum: Putin ist der Meinung, 1991 habe sich Gorbatschow von den Amerikanern über den Tisch ziehen lassen, am Ende brachen die Sowjetunion und der Warschauer Pakt zusammen. Nun sieht sich Putin als knallharter Verhandler, der Trump um den Finger wickelt und am Ende bekommt, was er will. 
Diese Sorge teile ich. Deswegen ist es so gut, dass Selenskyj Trump nicht allein gegenübersteht, sondern die Europäer hinter sich weiß. 

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