"Es ist dunkel und kalt hier ohne Strom", sagt Galyna Malachowa fast entschuldigend. Im Wollmantel sitzt die 63-Jährige auf ihrem abgewetzten grünen Sofa. Die beiden Hündinnen Rita und Mafa sind die einzige Gesellschaft in ihrer Erdgeschosswohnung am nordöstlichen Stadtrand von Charkiw, im Bezirk Saltiwka, Distrikt Nummer 5. Dass Malachowa noch lebt, dass ihre Wohnung noch steht, ist fast ein Wunder.
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine beschießt und bombardiert die russische Armee dieses Hochhausviertel mit den vielen Sozialwohnungen unablässig. Charkiw im Nordosten des Landes ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine, von Saltiwka aus sind es nur etwas mehr als 20 Kilometer bis zur russischen Grenze. Ein Monat Krieg hat das Stadtviertel von Malachowa in eine verwüstete Geisterstadt verwandelt. Wer konnte, floh.
Charkiw: "Die Russen bombardieren uns ständig"
Malachowa ist geblieben. Die Tür zum gegenüberliegenden Treppenabsatz wurde zerstört, eine schmutzige Matratze liegt in der von geplatzten Rohren ausgelösten Überschwemmung. "Eine Rakete hat die Fassade auf der anderen Seite getroffen", berichtet Malachowa. "Wir sind direkt gegenüber von den Russen, sie bombardieren uns ständig. Am Anfang hatte ich Angst, jetzt habe ich mich ein wenig daran gewöhnt."
Wenn die Angriffe zu heftig werden, versteckt sie sich im Badezimmer. Die ruhigen Momente nutzt Malachowa, die zurückgelassenen Nachbarskatzen zu füttern.

Vermummte Wächter verhindern Plünderungen
Draußen bewachen zwei vermummte Gestalten den Ausgang eines Treppenhauses. Sie passen auf, dass niemand die verlassenen Wohnungen plündert. Ein Mann mit vor Müdigkeit geröteten Augen zieht nervös an seiner Zigarette. Er lädt zu einem Besuch in seinen Unterschlupf ein, in ein Gebäude, das bis zum russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar eine Schule war.
Im Schulkeller liegt ein beißender Geruch in der Luft. Die flackernde Flamme einer Kerze beleuchtet den leeren Blick eines alten Mannes, der unbeweglich an einem Schulpult sitzt. Nach und nach sind im Halbdunkel weitere Menschen zu erkennen, in dicke Decken gehüllt, auf improvisierten Betten liegend.
"Psychisch sind wir am Ende"
Die grauen, blassen Gesichter zeigen, dass diese Menschen seit Tagen nicht mehr draußen waren, obwohl ihre Wohnungen nur ein paar Schritte entfernt sind. "Körperlich halten wir durch. Wir leben, wir kochen, wir reden miteinander, das hilft uns, die Situation zu bewältigen", sagt die 65-jährige Olga Pantschenko, die ihre rote Mütze tief ins Gesicht gezogen hat. "Aber psychisch sind wir am Ende."
Wadim ist einer der wenigen Jugendlichen hier unten. "Die russischen Soldaten haben unser Leben, unsere Freiheit gestohlen. Wir wissen nicht, wie wir hier rauskommen sollen", bricht es aus ihm heraus. "Der Krieg ist überall ringsum."
Mutige Freiwillige bringen den etwa 20 Menschen im Keller Lebensmittel. Wenn der Strom ausfällt, machen sie Feuer zum Kochen.

"Ich kann sowieso nicht schnell nach unten laufen"
"Die letzten Tage haben alles in unserem Leben verändert", sagt der 18-jährige Jewhen mit müder Stimme. "In diesem Keller sind wir ein bisschen wie eine große Familie geworden." Neben ihm sitzt seine Mutter und streichelt einen großen Kater auf ihrem Schoß. Die meisten hier sind alt und geschwächt, krank oder behindert. Oder Menschen, die in diesem armen Viertel mit vielen sozialen Problemen einfach nicht wissen, wohin sie fliehen könnten.
Olga Pantschenkos Mann ist seit einem Schlaganfall rechtsseitig gelähmt, ihr Sohn hat "nach einem Unfall den Verstand verloren", sagt die Mutter. Vater und Sohn halten sich den ganzen Tag über in ihrer Wohnung im sechsten Stock auf, ohne Wasser und Strom.
Pantschenkos Mann begrüßt den Besucher ruhig und lächelnd. "Nein, ich habe keine Angst", sagt er. "Ich kann sowieso nicht schnell nach unten laufen." Morgens und abends kommt seine Frau aus dem Keller in den sechsten Stock, um den beiden Essen zu bringen. "Wir zählen die Tage und Nächte", sagt Pantschenko. "Und danken für jeden Tag, den wir am Leben geblieben sind."