US-Nahostexperte Miller "Ich verfolge diesen Konflikt seit Jahrzehnten – und sehe keinen Krieg, den man gewinnen kann."

Zerstörung Gaza
Menschen in Gaza nach einem Luftangriff der Israelischen Luftwaffe
© Mohammed Abed / AFP
Ein Vierteljahrhundert arbeitete Aaron David Miller im US-Außenministerium an Lösungen für den Nahostkonflikt. Im Interview mit dem stern erklärt er, weshalb die Hamas gerade jetzt angegriffen hat – und über welche Optionen die israelische Regierung nun verfügt.

Israel hat Grenzzäune zum Gaza-Streifen gebaut und verfügt über ein bestens ausgestattetes Militär. Wie ist ein so großer Angriff auf das Land überhaupt möglich?
Aaron David Miller: Es gab immer wieder überraschende Angriffe. Am 6. Oktober 1973, also am Freitag vor 50 Jahren, war ich persönlich in Jerusalem, als die Sirenen plötzlich heulten und ein massiver Angriff der Ägypter und Syrer auf Israel begann. Überraschungen sind immer möglich. Aber dieser Angriff ist kaum zu fassen.

Weshalb genau?
Israel überwacht die Palästinenser genau: Telefone, soziale Medien, Sicherheitsbehörden. Sie haben Informanten im Gaza-Streifen. Offenbar hatten sie keine Anzeichen, dass es zu diesem Angriff kommen würde. Oder es gab Warnungen der Geheimdienste, die von der Politik ignoriert wurden. Zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir das nicht. Ehrlicherweise wissen wir aktuell sehr vieles nicht. Aber unabhängig davon: Das ist ein Trauma mit einer Zahl von Toten, die kaum abzusehen ist.

Aaron David Miller arbeitet als Nahostexperte für das "Carnegie Endowment for International Peace" (CEIP) in Washington, DC. Zwischen 1978 und 2003 arbeitete Miller im US-Außenministerium als Analyst und Berater republikanischer und demokratischer Außenminister.
Aaron David Miller arbeitet als Nahostexperte für das "Carnegie Endowment for International Peace" (CEIP) in Washington, DC. Zwischen 1978 und 2003 arbeitete Miller im US-Außenministerium als Analyst und Berater republikanischer und demokratischer Außenminister.

Wie wird Israel darauf reagieren?
Die israelische Regierung muss nun eine Entscheidung treffen. Sie kann Gaza und die Hamas bombardieren und Infrastruktur zerstören. Aber sie kann die Hamas nicht aus der Luft besiegen. Eine Bodenoffensive in Gaza wäre eine sehr ernste Angelegenheit. Es würde signifikante israelische Opferzahlen geben – und noch sehr viel mehr Opfer auf Seiten der Palästinenser. Die Regierung steht unter großen Druck, eine klare und mutige Antwort zu geben.

Wie wahrscheinlich ist eine Bodenoffensive?
Niemand kann genau sagen, was jetzt passiert. Es gibt keinen Präzedenzfall für das, was gerade geschieht. Zwischen Israel und der Hamas ist es seit 2008 fünf oder sechs Mal zu schweren Auseinandersetzungen gekommen, das ist die bislang schwerwiegendste. Nicht so sehr wegen der Raketenangriffe, die gab es schon früher. Die grenzüberschreitenden Überfälle mit Trucks sind neu.

Zumal die Angriffe noch laufen.
Ja, es gibt israelische Gemeinden, die am Samstagnachmittag immer noch belagert wurden. Die rufen nach Hilfe von der Regierung. Aber aus unterschiedlichsten Gründen können sie gerade nicht gerettet werden oder es dauert noch eine Weile. Das wird ein riesiges Problem für Benjamin Netanjahu und seine Regierung.

Der Premierminister sagt, Israel sei im Krieg. Was folgt daraus?
Er hat noch mehr gesagt, nämlich dass Israel den Krieg gewinnen wird. Das ist der entscheidende Punkt. Die Frage ist, was das heißt. Ich verfolge diesen Konflikt seit Jahrzehnten und kann kein Ende erkennen. Ich sehe keinen Krieg, den man gewinnen kann.

Warum gibt es diesen Angriff gerade jetzt?
Die Hamas hat gesehen, wie sich die ökonomische Situation in Gaza verschlechtert und dass Israel und Saudi-Arabien über Frieden verhandeln. Aber vor allem wollen sie als Führer der palästinensischen nationalen Bewegung angesehen werden. Sie wollen zeigen, dass die Fatah nicht in der Lage ist, die Palästinenser im Westjordanland zu schützen, die Hamas aber sehr wohl. Und nicht nur, dass sie Palästinenser schützen können, sie können auch Angriffe auf Israel planen und durchführen.