Very British Der Boulevard will Blut

Es liegt nicht nur an der dunklen Jahreszeit, dass sich in Großbritannien gerade ein grauer Schleier über das Land legt. Zwei Mordprozesse, an fürchterlichen Details kaum zu übertreffen, lassen die Boulevardzeitungen die Wiedereinführung der Todesstrafe fordern.

Seine Frau hat sich von ihm losgesagt, angeblich, so will die Sun herausgefunden haben, wünschen ihm zehntausende den Tod. Der Gabelstapelfahrer und Ex-Kreuzfahrt-Steward Steve Wright wurde am Donnerstag in der vergangenen Woche des Mordes an fünf jungen Frauen für schuldig gefunden. Im Herbst 2006 hatte er eine nach der anderen erwürgt, alle fünf arbeiteten als Prostituierte, alle fünf waren drogenabhängig. Die Leichen wurden innerhalb von sechs Wochen in Bächen, am Feldweg und im Wald in der Nähe der Stadt Ipswich gefunden, erwürgt, nachdem sie nach einer Dosis Heroin nicht mehr zur Gegenwehr in der Lage waren.

Wright gab während des Prozesses zu, dass er mit allen fünf Frauen Sexualverkehr hatte - und dies auch noch genau in derselben Reihenfolge, in der sie gestorben waren. Ein blöder Zufall sei dies, war seine Verteidigung. Er bestritt bis zuletzt, die Frauen umgebracht zu haben. Die Anklagevertretung wurde dadurch gezwungen, jeden seiner Schritte in den sechs Wochen der Mordserie durch präzise forensische Untersuchungen nachzuvollziehen. Spuren seiner DNA wurden an drei Frauen gefunden, außerdem das Blut von zweien an seiner Neon-Jacke. Im Haar eines Opfers fanden sich Fasern der Fußmatte seines Autos, andere hatten Fasern seines Bettes oder Teppich zu Hause an sich kleben. Wright wurde an jedem Abend, an dem eine der Frauen verschwand, gefilmt, wie er die Stadt in Richtung der Fundstelle verließ - die Reihe der Indizien war endlos lang. Dennoch bestand Wright bis zum Schluss darauf, dass er unschuldig sei. Die Geschworenen sahen dies anders, sie verurteilten ihn zu lebenslänglicher Haftstrafe mit besonderer Sicherheitsverwahrung.

Cornelia Fuchs

London ist der Nabel der Welt und Europa immer noch "der Kontinent". stern-Korrespondentin Cornelia Fuchs beschreibt in ihrer wöchentlichen stern.de-Kolumne das Leben zwischen Canary Wharf und Buckingham Palace, zwischen Downing Street und Notting Hill.

Es wirkte wie ein böses Echo, als auch der Angeklagte im zweiten Mordprozess in der vergangenen Woche beständig abstritt, etwas mit dem Mord an einem jungen Mädchen zu tun zu haben, das Ende September 2005 vor der eigenen Haustür erstochen worden war. Sally Anne Bowman hatte am Abend ihres Todes einen Streit mit ihrem Freund, der sie vor ihrem Haus absetzte und dann schnell wegfuhr. Ihr Körper wurde am nächsten Tag gefunden, nackt, voller Biss- und Stichwunden.

Beim Sex nicht gemerkt, dass sie tot war

Angeklagt wurde schließlich Mark Dixie, ein Koch aus einer nahegelegenen Kneipe. Er gab zwar zu, Sex mit dem Körper von Sally Anne Bowman gehabt zu haben. Er habe aber nicht bemerkt, dass sie da schon tot war. Auch Dixie wurde aufgrund von DNA-Beweisen verurteilt. 1999 wurde er bereits für ein Sexualdelikt aus Australien abgeschoben. Bis zuletzt beteuerte er, des Mordes unschuldig zu sein.

Diese düstere Ansammlung von Mordprozessen hat, zumindest bei den Boulevardzeitungen, am Wochenende zu einer Art Hysterie geführt. Seit Tagen rufen Schlagzeilen nach der Todesstrafe auf ihren Titelseiten. Die Zeitungen machen sich zum Sprachrohr einiger Angehöriger der Opfer, die eine Wiedereinführung des Erhängens fordern, dazu zeigt zum Beispiel die "Sun" einen Galgen mit Schlinge. Politischen Widerhall finden diese Muskelspiele des Boulevards nicht, auch, wenn diese immer wieder die "liberal-elitäre Elite, die dieses Land regiert" auffordern, endlich auf ihr Volk zu hören.

99 Prozent wollen Todesstrafe

Die "Sun" ging gestern sogar so weit, eine gänzlich unrepräsentative Umfrage unter den eigenen Lesern als Hauptschlagzeile auf der Titelseite zu verkünden. Von 100.000 Sun-Lesern wollen angeblich 99 Prozent die Todesstrafe zurück.

Wenn bisher die Politik auf die Stimmungslage noch nicht reagiert hat, so tat es doch bereits der leitende Kommissar im Fall der ermordeten 18-Jährigen: Der Erfolg der DNA-Untersuchungen zeige, dass eine nationale DNA-Datei mit den genetischen Informationen aller Briten sinnvoll sei. Großbritannien hat schon heute die größte DNA-Datei der ganzen Welt mit über 4,5 Millionen Datensätzen - die meisten davon gehören Menschen, die niemals vor Gericht standen. Auch Zeugen und Verhaftete, die ohne Anklage entlassen werden, müssen bei der Polizei ihre DNA registrieren, sie verbleibt für immer in der Datenbank.

Die Tücken der Datenspeicherung

In den vergangenen Monaten mussten die Briten immer wieder erfahren, dass gerade eine solche zentrale Speicherung ihre Tücken hat. Im vergangenen Jahr verloren gleich mehrere Ministerien Millionen von Privat-Adressen auf DVDs und Laptops. Aus dem Finanzamt verschwanden Informationen über Kindergeldempfänger, aus der Fahrzeugbehörde die Daten von Führerscheinbewerbern, der Armee kamen Adressen von Rekruten abhanden. Noch immer wissen 25 Millionen Briten nicht, wer außer dem Finanzamt noch die Nummern ihre Bankkonten, ihre Adresse und ihr Geburtsdatum kennt - von zwei DVDs mit den entsprechenden Dateien fehlt immer noch jede Spur. Da es in Großbritannien keinen Personalausweis gibt, können solche Informationen von Betrügern für Kreditkartenanträge und Bankauskünfte genutzt werden.

Daher sind britische Politiker bei der Diskussion einer zentralen Speicherung jeglicher Daten noch vorsichtig: Niemand wolle eine Nation der Vorverurteilten, sagte der innenpolitische Sprecher der Oppositionspartei, David Davis. Und die Regierung von Premierminister Gordon Brown ließ verlauten, dass sie darauf hinarbeiten würde, die DNA-Datenbank "auf freiwilliger Basis" wachsen zu lassen.

Ein neuer Gräuel-Fall

Währenddessen haben sich britische Forensiker schon einem neuen Gräuel-Fall zugewandt. Unter einer dicken Betonschicht in einem ehemaligen Kinderheim auf der Kanal-Insel Jersey sind die Überreste einer Kinderleiche gefunden worden. Die Polizei vermutet, dass noch weitere Tote auf dem Gelände zu finden sind - sie verfolgen seit zwei Jahren Hinweise auf mehrere Missbrauchs- und Misshandlungsfälle in dem staatlichen Heim, das 1986 geschlossen wurde. Inzwischen sollen Archäologen vor Ort bei der Suche nach weiteren Knochen helfen.

Die sterblichen Überreste des ersten Fundes sind nach Großbritannien geflogen worden. Ergebnisse sollen in einigen Wochen vorliegen - doch ob jemals geklärt wird, wann und wie das Kind starb, ist unklar. Zu lange haben die Knochen vergraben gelegen. Die Polizei sucht in alten Akten inzwischen nach Vermissten-Meldungen aus der Zeit zwischen 1960 und 1980. Bisher gibt es keinerlei Anhaltspunkte, wer das Kind sein könnte. Und die DNA hilft in diesem Fall nicht weiter.