Der Gast aus Peking trägt einen dunklen Anzug, eine schwarze Herrenhandtasche und er hat Fragen mitgebracht. Die Hauptstadt ist in Sorge. "Der Erhalt der sozialen Harmonie ist bei den Parteisitzungen in Peking inzwischen das wichtigste Thema", berichtet der Besucher. Es geht um die Zukunft Chinas. Was kann man tun?
Wang Hongbin hört still zu. Er lehnt sich in den breiten Konferenzsessel zurück, weiße Schonbezüge, er ist klein, seine Füße berühren gerade eben den Boden. Viele Leute aus dem ganzen Land kommen nach Nanjie, um Wang Hongbin, den Parteisekretär, um Rat zu fragen. Selbst hohe Regierungsmitglieder aus Peking wollen von Nanjie lernen, doch beruhigen kann Wang sie nicht. Er sagt: "Nur durch den Kampf können wir die Übel ausrotten, nur so können wir eine harmonische Gesellschaft erreichen." Er hat eine ruhige Stimme. Der andere nickt.
Die große Serie ...
... zur Geschichte Chinas.
Jetzt im neuen stern
Ganz China ist im Umbruch. Ungezügelt breitet sich der Kapitalismus aus. Und damit verbunden auch Unsicherheit. Doch das kleine Dorf Nanjie bleibt dem Kommunismus treu, bewahrt Planwirtschaft und Kollektivierung. Das Erstaunliche: In Nanjie funktioniert der Kommunismus besser als irgendwo sonst. Es gibt bis heute keinen relevanten Privatbesitz, keine Autos, keine Hochhäuser, keine Leuchtreklamen und keine privaten Firmen. Lebensmittel, Möbel und Gebrauchsgegenstände werden gegen Gutscheine an die Menschen verteilt. Ausbildung und medizinische Versorgung sind kostenlos. Die 92 Quadratmeter großen Einheitswohnungen sind mietfrei. Dafür kontrolliert die Kommunistische Partei das ganze Leben. Sogar private Hochzeiten sind in Nanjie abgeschafft worden. Stattdessen veranstaltet die Partei zum Nationalfeiertag am ersten Oktober eine Massenhochzeit und spendiert den Paaren die Flitterwochen in Peking. Nanjie ist wie ein Gegenentwurf zu den Reformen der chinesischen Regierung. Und galt lange als der Beweis für die Überlegenheit der Planwirtschaft: Kommunismus, der sich im Feldversuch bewährt hatte.
Die Geschichte begann vor 23 Jahren. Nanjie war arm, ein gewöhnliches Bauerndorf in der zentralchinesischen Provinz Henan, wo das Land flach und grün ist. Wang Hongbin, geboren 1951, mit penibel gescheitelten Haaren, trägt einen Pullover, der leicht über dem Bauch spannt und auf seiner linken Wange beult sich ein Pickel, der im Rhythmus seiner Worte über das Gesicht tanzt. Es war Wangs Idee. Er wuchs in einer Lehmhüte neben den Feldern auf. Als er ein Junge war, war die Ernte oft knapp. Die Vorräte reichten gerade mal für zehn Monate. Zwei Monate mussten die Menschen hungern.
Der Autor
Janis Vougioukas lebt seit Sommer 2002 als freier Autor in Shanghai. Die faszinierendsten Menschen, die er während seiner Recherchen für zahlreiche Zeitungen und Magazine traf, porträtiert er in einem Buch, aus dem stern.de Auszüge veröffentlicht.
Es war Sommer, Erntezeit, Wang war gerade 19 Jahre alt und bereits Vizeparteisekretär und musste sich vor allem um die Felder kümmern und das "patriotische Getreide" für die Stadtbewohner abliefern. Es war auch die Zeit, als Deng Xiaoping zum ersten Mal von Wirtschaftsreformen sprach, die Wirtschaft für den Westen öffnete und den Bauern ihr Land zurückgab. Wang fing erst 1981 an, diese Reformen umzusetzen, viel später als andere Dörfer. Die Produktion sank. Immer mehr Bauern verließen ihre Felder, um in den Städten nach Arbeit zu suchen. Die Ernte wurde schlechter. Wang hatte nur sehr ungenaue Vorstellungen von der Marktwirtschaft. Da beschloss er, zum Kommunismus zurückzukehren.
Als die Staatsführung 1986 ankündigte, das Tempo der Reformen zu beschleunigen, tat er einfach, als ob er nichts gehört hätte. Er begann, die Felder, Ställe und Häuser wieder zu verstaatlichen. Er machte einfach das, was er immer gemacht und immer gekannt hatte. "Die Menschen brauchen eine strenge Führung", sagt Wang. Er führte sehr streng. Einmal ließ er seine eigene Mutter bestrafen, weil sie zu spät auf dem Feld erschienen war. Wang ließ Brunnen und Kanäle ausheben, er baute Lebensmittelausgabestellen und legte Wege an. Die Ernteerträge stiegen wieder. Auf den Feldern wuchsen jetzt 800 Kilogramm Getreide pro Mu (666 Quadratmeter). Nanjie konnte sich wieder selbst versorgen.
Wang gründete eine Ziegelei, die erste Fabrik des Dorfes. Heute ist er Chef eines Wirtschaftsimperiums aus 26 Staatsbetrieben, darunter auch eine Arzneimittelfirma und eine Instantnudelfabrik, die im ganzen Land bekannt ist. "Im vergangenen Jahr haben unsere Fabriken einen Umsatz von 1,2 Milliarden Yuan erreicht", sagt Wang.
Das Buch
Ein goldenes Klo, einen Sprachfanatiker, der 23.000 Fehler im chinesischen Wörterbuch entdeckt hat und ein in Planwirtschaft lebendes Dorf - dies sind nur einige der Gegensätze, die das moderne China in sich vereint und die Janis Vougioukas in seinem Buch "Wenn Mao das wüsste. Menschen im neuen China" porträtiert. ISBN 978-3-7766-2560-8, 17,90 Euro.
Zhou Jinchang arbeitet als Hausmeister einer Wohnanlage und verdient 220 Yuan im Monat. Das Einheitsgehalt in Nanjie ist niedrig. Doch Zhou sagt, das Geld reiche für alle seine Bedürfnisse. Farbfernseher, Klimaanlage, eine Wanduhr, eine Sitzecke, Esstisch, selbst die Mao-Statue für den Couchtisch gab es kostenlos von der Regierung. Niemand konnte sich in Nanjie früher einen solchen Luxus leisten. "Sogar das Telefon ist umsonst", sagt Zhou, "allerdings funktioniert es nur im Ort. Die Regierung fürchtet, dass wir nach draußen telefonieren könnten." Er sagt "draußen", als spreche er von einer weit entfernten, fremden Welt. "Empfinden Sie das nicht als Einschränkung?" "Nein", sagt Zhou, "wer will schon Ferngespräche führen?" So denkt in China heute nur noch die Rentnergeneration.
Mit den Jahren wurden die Ideen des Parteisekretärs immer größenwahnsinniger. Er plante ein gigantisches Stahlwerk und ein Kohlekraftwerk. Experten von außerhalb konnten ihm dem Plan gerade noch ausreden. Er investierte Millionenbeträge in die Erfindung eines Perpetuum mobile - und scheiterte. Hinter der Parteizentrale baute er ein Hochhaus mit Spiegelfassade für talentierte Forscher von außerhalb. Das Gebäude steht seit Jahren leer. Es hat lange gedauert, bis die ersten Chinesen bemerkten, dass etwas in Nanjie nicht stimmen kann. "Die Fabriken sind ineffizient und haben die Modernisierung verpasst", schrieb ein staatlicher Inspekteur an den ehemaligen Premierminister Zhu Rongji und begann damit im ganzen Land eine Diskussion über das Modelldorf.
Wehe, jemand will die Kredite zurück
Wang sagt, seine Staatsbetriebe hätten im vergangenen Jahr 56 Millionen Yuan Gewinn erwirtschaftet. Doch der Dorfbuchhalter Huang Guoxiang spricht von nur 25 Millionen und erwähnt auch die Kredite über 1,6 Milliarden Yuan, die Nanjie in den letzten zehn Jahren aufnehmen musste. Langsam setzt sich in China die Erkenntnis durch, dass es auch in Nanjie kein kommunistisches Wirtschaftswunder gegeben hat. Nur einen jungen Parteisekretär, der reden konnte und gute Beziehungen hatte zu den Parteisekretären der Staatsbanken. Zurückgezahlt ist noch nichts. Wangs Utopia ist auf Pump finanziert. Doch Chinas Staatsbanken sind inzwischen börsennotierte Weltkonzerne. Wenn sie ihre Kredite irgendwann zurückfordern, ist Chinas letztes kommunistisches Dorf am Ende.
Anmerkung d. Red.: 1000 Yuan sind derzeit knapp 90,60 Euro - Stand 4.4.08