#nichtegal - Pflegereform Die Reform der vielen Fragen

  • von Oliver Noffke
Wir haben gefragt, was Ihnen nicht egal ist und Hunderte Zuschriften bekommen. Einigen Themen sind wir nachgegangen. Heute antworten wir Julian Graf, der auf die Pflegereform wartet.

Vor der Bundestagswahl hieß es ständig, Deutschland gehe es gut, es müsse nur so weitergehen. Das Gerede über die Wohlfühl-Republik hatte uns in der stern-Redaktion wütend gemacht. So entstand die Aktion "Es ist uns nicht egal". Nachdem stern-Mitarbeiter und zahlreiche Prominente aufgeschrieben haben, was ihnen nicht egal ist in diesem Land, meldeten sich Hunderte Leser bei uns. Auf Ihre Zuschriften wollen wir nun Antworten geben.

Eine Reform der Pflegeversicherung ist eine komplexe Aufgabe. Es gibt jede Menge offene Fragen und Interessen, die berücksichtigt werden sollten. Welchen Lohn erhalten Menschen, die pflegen? Wie kann Bedürftigen optimal geholfen werden? Wie definieren wir, was überhaupt ein Pflegefall ist? Und vor allem: Was darf uns das kosten?

Am unteren Ende des Lohnspiegels

"Die Pflegeversicherung ist die einzige Sozialversicherung, die gedeckelt ist", sagt Thomas Meißner, Präsidiumsmitglied im Deutschen Pflegerat e.V. Durch die Einordnung der Patienten in Pflegestufen "bekommen sie nicht was sie brauchen, sondern wonach sie eingestuft wurden". Vereinfacht gesagt, bedeutet das: Wird ein Mensch als Pflegefall eingestuft, wird für seine Behandlung pauschal ein Betrag X freigegeben. Je nach Pflegestufe. Von diesem Betrag müssen alle Leistungen abgedeckt werden – die Behandlung ebenso wie die Löhne des Pflegepersonals. Das heißt, werden die Löhne der Pfleger angehoben, geht dies im aktuellen System zu Lasten der Patienten. Aufgrund der Deckelung bliebe weniger Geld für ihre Behandlung.

Altenpflege zum Beispiel ist eine harte, körperlich fordernde Arbeit. Wenn man eine bettlägerige ältere Person wäscht und umzieht, erfordert dies Kraft, Belastbarkeit und einen starken Rücken. Zudem erwarten wir, die Gesellschaft, dass bedürftige und vielleicht sogar greise oder einsame Menschen mit einem Mindestmaß an Zuneigung behandelt werden. Viele Altenpfleger wählen ihren Beruf aus einem simplen und sehr ehrenvollen Grund: Sie wollen Menschen helfen, die in ihrer Gesundheit dauerhaft eingeschränkt sind. Jeder sollte ein Interesse daran haben, dass diese Berufsgruppe nicht vom eigenen System zermahlen wird.

Laut Lohnspiegel für Pflegeberufe der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung befinden sich Altenpfleger mit großem Abstand am unteren Ende dieser Tabelle der Pflegeberufe. Sie erhalten demnach im Durchschnitt etwa 200 Euro weniger brutto als eine nicht-spezialisierte Krankenschwester – wenn nach Tarifvertrag gezahlt wird.

Wenn sich die Qualität der Behandlung nicht verschlechtern soll und wir wollen, dass Pfleger besser bezahlt werden, "dann muss man den politischen Mut haben, den Leuten zu sagen: Das kostet mehr Geld", sagt Meißner.

Alt werden heißt nicht gleich krank sein

Krankheit oder ein Unfall können jeden zeitweise oder dauerhaft zum Pflegefall machen. Diese Altersunabhängigkeit entkoppelt die Pflege vom Generationenvertrag. In die Pflegeversicherung zahlt deshalb jeder ein: Angestellte und deren Arbeitgeber, Selbstständige sowie Rentner. Es ist nicht so, dass immer weniger Junge immer mehr stemmen müssen. Schließlich kann man bis an sein Lebensende gesund und rüstig sein.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Die Menschen in Deutschland werden zwar älter, sie bleiben aber auch länger fit. Wir beschäftigen uns heute weitaus intensiver mit unserer Ernährung und unser Fitness als die Generationen vor uns. Die Behandlungsmöglichkeiten der Medizin verbessern sich fortlaufend. Extrem harte körperliche Arbeit gehört oft der Vergangenheit an, zudem hat sich der Arbeitsschutz in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert. Viele Krankheiten, die Menschen früher mit 60 bekamen, erleiden sie heute erst mit 70 oder noch später. Doch in einer alternden Gesellschaft treten altersbedingte Krankheiten wie Demenz vermehrt auftreten. Das aktuelle System der Einstufung berücksichtigt diese Anforderungen nicht umfassend.

Eine Anpassung an die aktuelle Realität in Deutschland könnte gerade jetzt gelingen. Union und SPD werden in ihren Koalitionsverhandlungen auch das Thema Pflege besprechen. Die SPD möchte die Beiträge zur Pflegeversicherung erhöhen, um so Mindestlöhne in dieser Branche finanzierbar zu machen ohne, dass dadurch die Leistungen der Betroffenen eingeschränkt werden. Meißner schätzt, dass eine Erhöhung der Beiträge zur Pflegeversicherung um 0,5 Prozentpunkte Mehreinnahmen von mindestens zwei Milliarden Euro einbringen würden.