Das Atomkraftwerk Biblis B hat einem Gutachten zufolge zahlreiche Schwachstellen. Die "Süddeutsche Zeitung" berichtete am Dienstag unter Berufung auf ein bislang unveröffentlichtes Gutachten des Darmstädter Öko-Instituts im Auftrag des Bundesumweltministeriums, in dem Kraftwerk gebe es mindestens 80 sicherheitstechnisch relevante Defizite. In zahlreichen Punkten entspreche der Anfang der 70er Jahre gebaute Atommeiler nicht mehr dem heutigen Stand der Technik.
Die Zeitung schreibt, das Gutachten habe klären sollen, inwieweit Vorwürfe der atomkraftkritischen Ärzteorganisation IPPNW berechtigt sind, nach denen Biblis insgesamt 210 sicherheitstechnische Defizite aufweist. Es liste Mängel auf, zum Beispiel im Notstandssystem oder beim Schutz gegen Erdbeben und Überflutungen. So könne eine "anlageninterne Überflutung", etwa durch ein geplatztes Rohr, dazu führen, dass alle vier Aggregate des nuklearen Zwischenkühlsystems ausfallen. Auch seien mittlerweile viele Materialien veraltet, beispielsweise Kabel aus PVC oder Rohrleitungen mit anfälligen Schweißnähten. Für eine Verbesserung müsste das Atomkraftwerk aufwendig nachgerüstet werden.
Nach Ansicht des Bundesumweltministeriums gebe die Novelle des Atomgesetzes den Aufsichtsbehörden in den Ländern zusätzliche Möglichkeiten, schärfere Sicherheitsauflagen einzufordern, heißt es in dem Blatt. Es sei nun an der hessischen Atomaufsicht, die Liste zu überprüfen und gegebenenfalls auf Nachrüstungen zu pochen. Am Dienstag hat das Kabinett die umstrittene Novelle beschlossen, die eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke von im Schnitt zwölf Jahren vorsieht.
Der Kraftwerksbetreiber RWE betonte dem Zeitungsbericht zufolge, Biblis sei sicher. Dagegen erklärte der IPPNW-Sprecher Henrik Paulitz: "Keine wirklich unabhängige Atomaufsichtsbehörde darf angesichts der Gefahren einer Atomkatastrophe ein solches Atomkraftwerk auch nur einen Tag länger in Betrieb lassen." Zu den 80 relevanten Defiziten kämen 36 weitere Mängel, die "potenziell brisant" seien. Mit dieser Quote sei "der weite Abstand vom gesetzlich geforderten Stand von Wissenschaft und Technik belegt".
Das Darmstädter Gutachten bestätige 40 bis 55 Prozent aller von IPPNW beanstandeten Schwachstellen von Biblis B, erklärte Paulitz. "Das hat es noch nie gegeben, dass Atomkraftgegner während eines atomrechtlichen Streitverfahrens fachlich Rückendeckung durch ein Gutachten der Bundesatomaufsicht bekommen." IPPNW beantragte 2005 beim hessischen Umweltministerium die Stilllegung von Biblis B, 2008 legte die Organisation Klage beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel gegen den Betrieb des Atommeilers ein.
Zu den wichtigsten Auftraggebern des Öko-Instituts gehören nach dessen Angaben Ministerien auf Bundes- und Landesebene, Unternehmen sowie die EU. Darüber hinaus arbeitet das gemeinnützige Institut für Nicht-Regierungsorganisationen und Umweltverbände.
Aktivisten von Greenpeace demonstrierten am frühen Dienstagmorgen an den deutschen Standorten von Atomkraftwerken, auch im südhessischen Biblis. Sie projizierten die Worte "Atomkraft schadet Deutschland" an die Kühltürme. "Die Gefahr der radioaktiven Verseuchung durch einen Unfall oder einen Terrorangriff ist nicht gebannt", sagte Atomexperte Wolfgang Sadik. Die Laufzeitverlängerung für Atommeiler bremse den Ausbau erneuerbarer Energien, führe zu rund 5.000 Tonnen mehr radioaktivem Atommüll und sei gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung.