Kiara weiß genau, was ein Brot oder ein halbes Pfund Butter kosten. Sie ist zwar erst zehn. Doch beim Einkauf macht ihr niemand etwas vor. Während sich der Kosmos anderer Mädchen ihres Alters über das neueste Handy oder den Reitunterricht erstreckt, forstet sie regelmäßig die Sonderangebote der Discount-Ketten durch. Gekauft wird, was billig ist und satt macht, lautet die oberste Prämisse - notgedrungen. Kiara, ihre drei Geschwister und ihre Eltern sind arm - wie inzwischen die Mehrheit der Berliner Familien dieser Größe. Dem Armutsbericht der Stadt von 2002 zufolge sind über 60 Prozent aller Familien mit vier oder mehr Kindern arm.
"Arme Kinder wollen nicht als arm bewertet werden"
Natürlich heißt Kiara anders. Sabine Walther, Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes in Berlin, würde niemals den richtigen Namen des Mädchens verraten. Zu groß ist die Scham der Kinder. "Arme Kinder wollen nicht als arm bewertet werden", sagt sie. Armut sei ein "unheimliches Stigma". Weit verbreitet ist sie dennoch. Fast ein Viertel der 570 000 Berliner Kinder unter 18 Jahren gilt als arm. Bei den unter Dreijährigen sind es sogar 31,8 Prozent. Bundesweit sind bereits rund drei Millionen der 14,9 Millionen Kinder arm, etwa eine Millionen sind auf Sozialhilfe angewiesen.
Und es werden mehr. Seit Monaten warnen Paritätischer Wohlfahrtsverband und Kinderschutzbund vor den Folgen der Fusion von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Allein das Arbeitslosengeld II lässt laut Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers Anfang 2005 eine halbe Million Kinder in die Sozialhilfe abrutschen, weil deren arbeitslose Eltern dann mit bis zu einem Drittel weniger Geld auskommen müssten.
Mehr Autos und Parkplätze als Kinder und Hortplätze
Bundespräsident Horst Köhler gab sich bei seiner Antrittsrede unmissverständlich: "Wir müssen zu einem Land werden, in dem wir nicht zulassen, dass Kinder verwahrlosen." Johannes Rau betonte schon vor Jahren und mehrfach, es sei ein Skandal, "dass Kinder in Deutschland das größte Armutsrisiko sind". Gleichwohl hat sich bisher nicht viel geändert. Das Kinderhilfswerk UNICEF konstatierte bereits resignierend, in den meisten deutschen Städten gebe es mehr Autos und Parkplätze als Kinder und Hortplätze.
Doch was bedeutet arm? Die Definition ist klar. Arm ist, wer weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Äquivalenzeinkommens zur Verfügung hat. In Berlin waren dies 2002 exakt 608 Euro pro Monat. Der Regelsatz der Sozialhilfe liegt in der Hauptstadt seit Anfang des Monats bei 297 Euro im Monat, Kinder erhalten je nach Alter zwischen 149 und 267 Euro. Das Kindergeld wird mit Ausnahme von 20 Euro verrechnet.
Hungrig in die Schule
"Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht", heißt es im Bundessozialhilfegesetz. Wie das in der Lebenswelt der Kinder aussieht? Dass Schulausflüge und Besuche von Geburtstagsfeiern der Freunde mangels Geschenk unmöglich sind, gehört noch zu den harmloseren Beispielen in Walthers Aufzählung. Es komme auch vor, dass Kinder im November mit Plastiklatschen auf die Straße geschickt würden oder hungrig in die Schule kämen.

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Walther macht den Eltern keine Vorwürfe. Die meisten versuchten bis zur Selbstaufgabe, ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Dennoch sieht sie die Gefahr, dass es genau dadurch noch schlimmer werden kann. So manche durch Arbeitslosigkeit, Scheidung oder Überschuldung ohnehin schon gestresste Eltern verzweifelten ob der Aussichtslosigkeit darüber so sehr, dass sie irgendwann die Kontrolle verlören. "Es kann dann passieren, dass Kinder nicht nur arm sind, sondern auch misshandelt werden." Sowohl physisch als auch psychisch.
Geringe Bildungschancen
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus armen Verhältnissen den Realschulabschluss schafft, ist laut Kinderschutzbund um 19 Prozent geringer als bei Kindern aus besseren Verhältnissen. Beim Abitur liegen die Chancen sogar 52 Prozent niedriger. Rund ein Drittel der armen Jugendlichen hat überhaupt keinen Abschluss.
Die Folgen seien prekär. Kein Abschluss heißt keine Arbeit und keine Arbeit bedeutet weiterhin Armut. Ohne grundlegende Änderungen beim Kindergeld, dem Zugang zu Hort- und Kindergartenplätzen und der Schulausbildung sieht Walther deshalb schwarz: "Die Perspektiven sind bedrohlich", sagt sie.