Auch das ist St. Pauli und zwar immer öfter: Die Frau im offenen Mercedes Cabrio stoppt im Kreisel und fragt, wo sich denn die Hafenstraße befinde. Sie sei auf der Suche nach dem "Schauermanns", wo sie essen wolle. "Da vorne, am besten Sie suchen sich hier einen Parkplatz", bekommt sie zu hören und antwortet entsetzt: "Mein Auto parken?! Hier?!"
Ja, genau hier. An der Antonistraße, Ecke Hafenstraße, am Designer-Park mit feinstem Elbblick. Hier, wo vor 25 Jahren die Straßenschlachten der Hausbesetzer getobt haben, wo vor fünf Jahren keine Frau gern nachts allein unterwegs war und man nun sieht, wie St. Pauli in Zukunft aussehen könnte. Mit Restaurants wie dem "Schauermann" - schlicht, hell, das Knurrhahnfilet mit Jakobsmuscheln für 21 Euro. Mit den geschmackvoll bunt-getünchten Häusern an der ehemals besetzten Hafenstraße. Oder dem Neubau mit dem 400-Quadratmeter-Penthouse, dessen "unverbaubarer Hafenblick" zwei Millionen Euro kostet.
So sieht es mittlerweile aus an einigen Ecken St. Paulis - dem berühmten Rotlichtviertel und einem der ärmsten Stadtteile im superreichen Hamburg. Der Kiez stand jahrzehntelang für alles, was neuerdings mit dem unschönen Begriff Unterschicht verbunden wird. Heimat für Arbeiter und Tagelöhner, Trinker und Obdachlose, für Problemfamilien, deren Kinder auf den Straßen spielen, zwischen Ausscheidungen aller Art. Der Ausländeranteil hoch, die Löhne niedrig.
Seit einiger Zeit aber kostet hier der durchschnittliche Wohnungsquadratmeter zehn Euro, kalt. Immer häufiger zieht es Studenten und Werber her, Leute aus der Internet- oder Kunstecke. Clevere Leute, gebildet. Nicht unbedingt reich, aber mit Einkommen und jung. Anderen dagegen wird St. Pauli zu teuer. Sie gehen weg in die noch billigeren Quartiere: Steinwerder, Neuwiedenthal, Steilshoop. Auch deswegen sinkt hier der Ausländeranteil.
Raus mit dem Armen, rein mit den Reichen
"Gentrification" nennen Soziologen diese Entwicklung: die Aufwertung von Stadtteilen, in denen eine statushöhere Bevölkerung eine statusniedrige verdrängt. Im Hamburg ist das mit dem Schanzenviertel passiert, in Berlin mit dem Prenzlauer Berg, in London mit den Docklands.
Dass es "aufwärts" geht mit dem Viertel, merkt Sieghard Wilm, Pastor der St. Pauli-Kirche, etwa daran, dass bei ihm plötzlich Hochzeiten stattfinden. "Früher war es undenkbar hier zu heiraten, selbst als St. Paulianer ist man in den Michel gegangen", sagt er. "Aber heute bekommen wir immer mehr Anfragen."
Doch so sehr sich der Kiez auch müht, sein mieses Image abzustreifen, den Stallgeruch als Unterschichten-Viertel wird er so schnell nicht los. Dafür ist die Infrastruktur für Arme und Bedürftige einfach zu gut und sie wird weiter ausgebaut - des großen Erfolgs wegen. Direkt hinter dem neuen Bavaria-Quartier, das noch mehr Gutverdiener nach St. Pauli locken soll, liegt im ehemaligen Hafenkrankenhaus das "CaFée mit Herz". Hier essen täglich 200 Rentner, Arme, Arbeits- und Obdachlose. Bis vor kurzem wurden noch 120 Mahlzeiten verteilt, seit es aber auch Frühstück gibt, kommen immer mehr "Gäste", wie Geschäftführerin Margot Wolf die Bedürftigen nennt.
Familien sind die wahren Armen
Und es sind nicht länger die notorischen Obdachlosen, Straßenpunks und Trinker, die hier einkehren. Wolf, erst seit wenigen Wochen im Amt, registriert immer häufiger Frauen im Café. Und Kinder. "Eigentlich betrifft Armut vor allem Familien". Die Chefin möchte ihr Café deshalb auch "familienfreundlicher" gestalten - mit einem Extraraum für Kinder, "damit sie nicht mit den anderen zusammen sein müssen".

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Auch Erwin zählt neuerdings zu den Gästen. Der 54-Jährige aus dem feinen Blankenese trägt ein adrettes Jackett und Hemd, auf dem Kopf eine Schiebermütze. Er liest ein Buch, so einer fällt hier auf. Vor zehn Jahren hat Erwin seinen Job als Krankenpfleger aufgegeben, um seine Mutter und seine Frau zu pflegen. Erst starb die Mutter, vor zwei Monaten die Frau. Gedankt hat ihm seine Aufopferungsbereitschaft niemand. Zumindest nicht finanziell. Jetzt bezieht er Hartz IV und isst im "CaFée mit Herz".
Keiner weiß, dass er zur Armenspeisung geht
"Am Anfang hat es mich schon Überwindung gekostet, und so richtig dran gewöhnen kann ich mich nicht", sagt er. Seine Nachbarn sollen nicht wissen, dass er zur Armenspeisung geht. Vielleicht zieht er auch weg aus Blankenese, er würde gerne wieder arbeiten, am liebsten im Pflegebereich. Oder auch "in so einer Einrichtung wie hier. Aber wer nimmt schon jemanden in meinem Alter?", fragt sich Erwin resigniert.
Den Kommentar
... von Hans-Ulrich Jörges zur Unterschichten-Debatte hören Sie hier:
www.stern.de/media/politik/joerges10.mp3
Auch Rentner Rolf ist nicht wie die anderen. Er trägt Krawatte zum Hemd, darüber einen dunklen Mantel, sein zurückgekämmtes Haar wird grau. Man sieht ihm seine 73 Jahre nicht an. Handwerker sei er gewesen, sagt Rolf, er lächelt und breitet seine Arme aus: "Grünflächen könnte ich auch wieder in Ordnung bringen". Zurzeit arbeitet er als Pianist in einem Elektronikkaufhaus. Aus Spaß, aber auch weil er das Geld braucht.
14.000 Euro Schulden wegen eines teuren Hobbys
Es habe da Schwierigkeiten mit seiner Hausverwaltung gegeben, erzählt er und wegen seines teueren Hobbys, der Musik, "hatte ich 14.000 Euro Schulden". Nun ja, von denen wolle er so schnell wie möglich wieder runter, weswegen er im CaFée mit Herz essen gehe. "So spare ich Geld", sagt er. Allerdings beeilt sich Rolf meist mit seinem Sparmenü: "Ich will mich von Leuten und der Stimmung hier nicht herunterziehen lassen."
So alt und weit wie Erwin und Rolf sind die vielen Neu-St. Paulianer noch nicht. Aber Pastor Wilm glaubt, dass nicht wenige von Ihnen in Altersarmut enden werden. Neulich hätten ein paar Leute bei ihm in den Seelsorgegesprächen gesessen. "Studierte Leute, die ihre Rentenberechnungen gesehen haben". Die seien schockiert gewesen, dass sie so wenig bekommen würden. "Da merkten die zum ersten Mal, dass es nichts wird werden könnte mit dem Lebensabend in Wohlstand."
Wilm sagt, er kenne viele Menschen, 30, 40 Jahre alt - "mobile Leute, die den Anforderungen der Globalisierung entsprechen." Sie haben europaweit gearbeitet, aber selbst das hilft ihnen am Arbeitsmarkt nur wenig. Die braven Bürger des Neoliberalismus, nennt Wilm sie beinahe mitleidig. "Man sieht es ihnen auf der Straße nicht an, aber sie werden Altersarmut erleben und sie wissen es. Und es werden immer mehr."
Die Politik, die Experten, jeder, der sich mit diesem Thema beschäftigt, ruft in diesen Fällen reflexartig nach mehr Bildung. Einige Familien auf dem Kiez aber haben nicht einmal das Geld, ihren Kindern Schulsachen zu kaufen. Unterkriegen lassen sich manche der Sprösslinge aber nicht: Sie verkaufen auf einem Mini-Flohmarkt ihr Spielzeug, damit sie sich ein Radiergummi oder Heft kaufen können.
Die Grundschule, auf die die Kinder hier gehen, ist ein moderner Glasbau, direkt gegenüber dem neuen Wohnblock mit dem Penthouse. Eigentlich sollte es zwei erste Klassen mit jeweils 26 Schülern geben. Doch so viele Erstklässler gibt es hier in der Gegend nicht mehr. Eltern, auch ausländische, die Wert darauf legen, dass ihr Nachwuchs deutsch an der Schule spricht, melden die Kleinen außerhalb des Viertels an. Oder sie ziehen gleich weg. Nun ist die einzige Grundschule in der Ecke von der Schließung bedroht - ausgerechnet jetzt, wo die Millionäre kommen.