Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Gerhard Schröder, Sie stellen nach Artikel 68 Grundgesetz die Vertrauensfrage im Deutschen Bundestag. Als frei gewählter Abgeordneter dieses Parlaments möchte ich Ihnen mit Artikel 38 unserer Verfassung antworten, der mich als Vertreter des ganzen Volkes sieht, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur meinem Gewissen unterworfen. Ich bin entschlossen, mich bei dieser Abstimmung verfassungsgemäß zu verhalten und meine Rechte und Freiheiten zu verteidigen. Sie erwarten, dass ich Ihnen das Vertrauen ausspreche - nur ausgewählte Minister Ihres Kabinetts sollen es Ihnen entgegen persönlicher Überzeugung formal verweigern -, während Sie mir wie meinen Kollegen in der SPD-Fraktion - das ist der Sinn Ihrer Vertrauensfrage - Ihr Misstrauen bekunden. Sie wollten nicht erpressbar sein durch uns, haben Sie dem Bundespräsidenten eröffnet. Das ist eine Perversion der Vertrauensfrage. Das ist der Höhepunkt einer dramatischen Entmachtung und Entwertung des Bundestages und seiner Abgeordneten. Das ist ein Fanal für die Verbiegung des Grundgesetzes und der demokratischen Kultur. An dieser Verbiegung wirke ich nicht länger mit. Ihr muss ein Ende gemacht werden. Die Vorgeschichte der Vertrauensfrage dokumentiert, was ich meine. Ich möchte sie aus der Perspektive des Grundgesetzes und der frei gewählten Abgeordneten des deutschen Volkes nachzeichnen.
Am Abend des Wahlsonntags von Nordrhein-Westfalen - das Ergebnis ist noch nicht amtlich, nur erste Hochrechnungen offenbaren den Trend - tritt der Vorsitzende der SPD, der kein Verfassungsorgan ist, in der Parteizentrale vor Kameras und Helfer und verkündet Neuwahlen. Ich, dessen vom Wähler erteiltes Mandat um ein Jahr verkürzt werden soll, erfahre davon am Fernsehgerät. Erst nach dem SPD-Vorsitzenden gehen Sie, Herr Bundeskanzler, der die Vertrauensfrage zu stellen hat, an die Öffentlichkeit. Auch das im Fernsehen, auch das nicht vor den Abgeordneten, deren Mandat Sie abschneiden möchten. Und erst nach der Verkündung telefonieren Sie mit dem Bundespräsidenten, der als Verfassungsorgan allein für die Auflösung des Bundestags zuständig ist. Dass dies zunächst wahrheitswidrig anders dargestellt wird, ist nur eine Arabeske dieses haarsträubend stillosen Verfahrens. Am folgenden Tag, einem Montag, lassen Sie sich den Plan zunächst durch das SPD-Präsidium absegnen. Auch das ist kein Verfassungsorgan. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bejubelt vor der Sitzung den "mutigen Beschluss", statt die Rechte der Abgeordneten und damit das Parlament zu verteidigen, wie er das schon lange vorher bei anderer Gelegenheit versäumt hat. Danach erst unterrichten Sie den Vorstand der SPD-Bundestagsfraktion, die Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU und FDP und schließlich in einem ausführlicheren Gespräch den Bundespräsidenten. Niemand protestiert dabei gegen die Missachtung der frei gewählten Vertreter des deutschen Volkes. Am Dienstag holen Sie sich die Zustimmung des SPD-Vorstands. Erst am Mittwoch, drei Tage nach Verkündung Ihrer Entscheidung, deren Entstehung und wahre Motive mir bis heute unklar sind, stellen Sie sich
"Das ist eine Perversion der Vertrauensfrage. Das ist der höhepunkt einer dramatischen Entmachtung des Bundestages"
der SPD-Bundestagsfraktion, doch die darf im Gegensatz zum Parteivorstand nicht abstimmen. Mit anderen Worten: Die frei gewählten Abgeordneten, deren Mandat vorzeitig enden soll, stehen ganz unten in der Durchsetzungskaskade. Sie haben nichts zu entscheiden, sie sollen sich fügen. Das verletzt Artikel 38 Grundgesetz. Nicht zum ersten Mal. Herrschaft von oben nach unten, Entscheidungsfindung in nicht legitimierten Zirkeln und Küchenkabinetten, Missachtung von Abgeordneten und Parlament haben inzwischen eine verhängnisvolle Geschichte. Übrigens nicht nur durch meine Regierung und in meiner Partei. Aber von denen spreche ich hier, aus gegebenem Anlass. In Ihrer Kanzlerschaft, lieber Gerhard Schröder, hat die SPD mit ihrer stolzen Tradition gebrochen, die Willensbildung von unten nach oben zu organisieren beziehungsweise "Unten" demokratisch einzubeziehen und mitzunehmen, wenn "Oben" die Richtung vorgibt. Das gesamte Hartz-Paket, das meine Partei bis an die Grenze des Erträglichen belastet hat, ist außerhalb demokratischer Strukturen entstanden und mit purer Macht von oben nach unten durchgesetzt worden. Die Agenda 2010 wurde über Nacht im Kanzleramt geschrieben und dann den Abgeordneten als verbindlich übergestülpt. Ich fürchte, Herr Bundeskanzler, Ihr enger Umgang mit Jacques Chirac und Wladimir Putin, den Sie einen "lupenreinen Demokraten" nennen, hat Sie in die Irre geführt - zu präsidialem Amtsverständnis. Das aber kennt unser Grundgesetz nicht. Da Sie mein Vertrauen bei dieser Abstimmung gar nicht gebrauchen können, habe ich auch keine Skrupel, es Ihnen nun mit Bedacht zu versagen.