Bildung "Wir lassen nichts durchgehen!"

Eine Hauptschule fast ohne Gewalt. An der Schüler so ausgebildet werden, dass zwei Drittel von ihnen eine Lehrstelle finden. Es gibt sie. Ein Lehrstück aus Stuttgart.

In der Filderschule in Stuttgart herrscht ein klares Prinzip: Wehret den Anfängen! Als vor drei Wochen ein 15-Jähriger einen jüngeren Schüler mit Tritten traktierte und ein Kumpel des Täters die Attacke mit dem Handy filmte, beschwerte sich das Opfer bei der Schulleitung. Rektorin Helgard Woltereck rief die Polizei. Die Eltern der Täter wurden informiert, ihre Söhne eine Woche lang vom Unterricht ausgeschlossen. Seitdem werden morgens in allen Klassen die Handys eingesammelt.

So wie an diesem Donnerstag: Sabahate, 11, geht vor Unterrichtsbeginn mit einem Schuhkarton durch den Raum der sechsten Klasse, sammelt ein halbes Dutzend Handys bei ihren 17 Mitschülern ein und verschließt sie im Schrank. Bis Schulschluss bleiben sie dort.

Bei Verstoß Treppenhaus schrubben

Auch Baseballmützen sind im Unterricht tabu. "Wir wollen die Gesichter sehen", sagt die Schulleiterin. Wer Mitschüler beleidigt, muss die Schimpfworte vor der Rektorin laut wiederholen und auf einen Zettel schreiben. Dieses Papier müssen die Eltern unterschreiben, der Schüler bekommt eine Strafarbeit. Kaugummi-kauen ist verboten. Spucken auf den Boden ebenso. Natürlich auch Graffiti. Jeder Verstoß wird geahndet - zum Beispiel mit Treppenhaus schrubben oder Kaugummireste vom Schulhof kratzen.

Schnelles Durchgreifen ist angesagt

Rektorin Helgard Woltereck, 63, weiß, wie der Niedergang einer Schule beginnt: "Wenn die Lehrer nicht gleich beim ersten Übergriff einschreiten." Gewalt gebe es kaum noch an ihrer Schule, "weil bei uns nichts durchgelassen wird". Dennoch ist die Filderschule keine Zuchtanstalt. Sie hat Lehrer, die durchgreifen, aber ihren Schülern auch etwas zutrauen. So wie andere Hauptschulen, die ebenfalls keine negativen Schlagzeilen machen.

Schule ist "Liebe, Hobby, Leben"

Vor 13 Jahren übernahm Helgard Woltereck die Leitung der Hauptschule im Stuttgarter Vorort Degerloch. Inzwischen darf sich die Grund- und Hauptschule mit ihren 450 Kindern zu den besten Hauptschulen in Deutschland zählen, ausgezeichnet von der Hertie-Stiftung und der Robert-Bosch-Stiftung. "Natürlich ist das ein harter Job", sagt die zierliche Frau, die selten weniger als 60 Stunden pro Woche arbeitet, trotz beidseitiger Hüftoperation. Die Schule ist ihr "Liebe, Hobby, Leben". Nachmittags besucht sie Handwerksbetriebe, abends Vereinsversammlungen oder organisiert Stadtteilfeste. Schule muss sich öffnen, so heißt ihr Rezept, besonders eine, von der alle glaubten, sie sei "der Horror". Am meisten glaubten dies die Kinder selbst.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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"Wenn die zu uns kommen, fühlen sie sich wie der letzte Dreck", sagt die Schulleiterin. So wie die aus Polen stammende Kamila, 11, die geheult hatte, als sie erfuhr, dass sie auf die Hauptschule muss. In ihrer Klasse, der sechsten, gibt es nur 18 Kinder. 17 davon haben Eltern, für die Deutsch eine Fremdsprache ist.

Multikulti mit Disziplin

"Deutsche Kartuffel", scherzt Hasan und klopft Christian, dem einzigen deutschen Mitschüler, auf die Schulter. Hasan stammt aus der Türkei, die anderen kommen aus Polen, dem Irak, Afghanistan, Sri Lanka, Italien, Griechenland, Albanien und Eritrea. Kriegskinder sind darunter, die Fotos von zerschossenen Häusern mitbringen, wenn sie im Unterricht von ihrer Heimat erzählen. Als Christian sein Land präsentierte, sang er die deutsche Nationalhymne. Heute will er die Entstehung der DDR vorstellen, ein anspruchsvolles Thema für einen Elfjährigen, das er selbst gewählt hat. Christian hat fleißig recherchiert und ein faustgroßes Stück der Berliner Mauer mitgebracht, das sein Großvater als Souvenir kaufte. "728 Leute wurden getötet, bloß weil sie von Osten nach Westen wollten", erzählt er und fährt mit dem Zeigestock hektisch über eine alte Karte des geteilten Berlin.

Demokratie heißt frei wählen

Christian trägt Brille, Zahnspange und einen hell getönten Mittelstreifen im Haar "wie Danijel Ljuboja vom VfB". Er ist Legastheniker und hyperaktiv. Anfangs war er so zappelig, dass ihm seine Lehrerin jeden Morgen ein Blatt Papier hinlegte. "Christian, mal was!" - das klang netter als "Christian, sei endlich still". Nun berichtet er mit Feuereifer, was eine Demokratie von einer Diktatur unterscheidet. "Demokratie heißt, dass man frei wählen und seine Meinung sagen kann."

Kinder selbst etwas entdecken und vor der Klasse erklären lassen, auch das gehört zu den Prinzipien der Filderschule. "Nur was man anderen beibringen kann, hat man selbst verstanden", sagt Klassenlehrerin Inge Weinold.

Lieblingslektüre und Kuschelkissen

An der Filderschule lamentiert keiner, immer weniger Kinder würden Bücher lesen. Einmal pro Woche bringen alle Schüler ihre Lieblingslektüre und ein Kuschelkissen mit, und dann wird eine Stunde lang geschmökert. "Mickymaus", "Bravo", Hip-Hop-Blätter oder "Maniac, die ganze Welt der Videospiele". Egal was, "Hauptsache, es macht Spaß", sagen die Lehrer.

Selbstbewußt durch Herausforderung

Selbstbewusstsein schaffen heißt ein weiteres Prinzip. Bei der Klassenfahrt der Fünftklässler ins Schullandheim zeigt ein Erlebnispädagoge, wie man sich aus fünf Meter Höhe von einem Baum abseilt. Wie man eine schwankende Leiter hochklettert, die nur von vier Kindern gehalten wird. "Man fühlt sich gut, wenn man so was geschafft hat", erinnert sich Kamila.

Abenteuerspiele im Wald

Auch Lehrer tun sich mit manchen Übungen schwer. Zum Beispiel nachts mit den Kindern durch einen Wald zu gehen, ohne Taschenlampe, ohne Fackel. In "absoluter Stille", wie Lehrerin Inge Weinold erzählt. "Man stolpert über Wurzeln, rutscht auch mal aus." Auf einer Lichtung sammeln sich alle. Dann soll jedes Kind ein Stück allein gehen, bis zu einigen Lehrern, die jenseits der Kuppe warten. "Es sind nur 150 Meter, aber es ist ein Gefühl des totalen Alleinseins." Wer Angst kriegt, darf stehen bleiben und auf den Nächsten warten. In solchen Situationen entsteht Nähe. Manchmal sagt ein Kind aus Versehen "Mama" zu Frau Weinold. "Wir sind für manche die einzigen Erwachsenen, die beständig sind", erklärt sie. Wenn morgens die erste Stunde ausfällt, sitzen trotzdem drei Viertel der Schüler im Klassenzimmer. "Zu Hause ist es mir zu langweilig", sagt Sevde, 11.

Berührungsängste abbauen

Die Mutter von Sevde spricht kaum Deutsch - und traute sich nicht in die Schule. Elternabende waren auch an der Filderschule ziemlich einsame Veranstaltungen. Deshalb erprobt die Schule jetzt "neue Formen". Eine Lesung mit einem türkischen Dichter zum Beispiel, bei der türkische Väter Tee im Samowar für die Gäste kochen und Mütter wie die von Sevde ein Büfett vorbereiten. Eltern und Lehrer kommen ins Gespräch. Aufwerten statt anklagen. "Nur so", sagt die Schulleiterin, "kann ich die Eltern gewinnen."

Das alles erklärt aber nicht den enormen Erfolg, den die Hauptschüler von der Filderschule auch beim Start ins Berufsleben haben: Pro Jahrgang erhalten zwei Drittel von ihnen eine Lehrstelle. An der inzwischen bundesweit berüchtigten Berliner Rütli-Schule hatte kein Schulabgänger einen Lehrvertrag.

Unterstützung durch Patenschaften

Ein Blick in die Stuttgarter Praxis zeigt, wie es gehen kann: Patrick aus Klasse acht hat in Mathe eine Fünf geschrieben. Nun übt er mit Ingo Dalcolmo, wie man Flächen berechnet. Der Werbefachmann und seine Frau Manuela sind so genannte Paten, zwei von zwölf Erwachsenen, die Filderschülern Nachhilfe geben. Dafür kehrt Patrick den Gehweg vor dem Haus der Dalcomos oder geht für sie einkaufen. "Unsere Kinder sollen nicht bloß nehmen, sondern auch geben", erklärt die Rektorin. Pate Dalcolmo unterstützt Patrick auch beim Schreiben von Bewerbungen und hat ihm ein Praktikum in der Vereinsküche der Stuttgarter Kickers vermittelt. Einmal pro Woche begleitet Patrick einen Elektriker auf Baustellen und hilft ihm, Steckdosen einzubauen und Kabelkanäle zu verlegen.

So wie Patrick besucht jeder Schüler in der achten Klasse regelmäßig an einem Schultag pro Woche einen Betrieb. Ein Vierteljahr gehen sie beispielsweise in die Schreinerei, dann in die Arztpraxis, dann in die Gärtnerei oder ins Altersheim. Die Jugendlichen lernen so möglicherweise ihre späteren Lehrmeister kennen. Patrick würde gern Elektriker werden. Seine Chancen sind gar nicht so schlecht.

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