Im Frühjahr fielen fast alle Corona-Schutzmaßnahmen. Beendet hat das die Pandemie aber nicht. Im Gegenteil: Anders als in den Jahren zuvor, steigt die Inzidenz schon jetzt wieder kräftig an. Eine Sommerwelle rollt auf Deutschland zu. Grund hierfür ist ein neuer Subtyp der Omikron-Variante – B.A.5. Die Variante gilt als besonders infektiös. Spätestens im Herbst dürften die Corona-Maßnahmen womöglich wieder verschärft werden.
Aber werden die nach Monaten der Freiheit klaglos von der Bevölkerung hingenommen und mitgetragen? Der Sozialpsychologe Professor Ulrich Wagner von der Universität Marburg befürchtet, dass es erneut zu Anti-Corona-Protesten kommen könnte. Im Gespräch mit dem stern gibt er einen Ausblick, wie der Herbst aussehen könnte und wo die Politik noch dringend nachrüsten muss.
Herr Wagner, die Corona-Maßnahmen sind weitestgehend weggefallen dafür treffen sich die Menschen wieder häufiger. Hat sich das Leben wieder normalisiert?
Ich denke nicht, viele Menschen sind nach wie vor vorsichtig, auch ängstlich. Das Leben ist zwar dabei, sich zu normalisieren. In der Normalität angekommen sind wir aber noch nicht.
Wie lange wird das noch dauern?
Das hängt sehr stark von der Pandemieentwicklung ab. Wenn es gelingt, das Virus so weit zurückzudrängen, dass keine wesentlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen drohen, geht das innerhalb weniger Wochen. Aber die Menschen sind zum Teil noch sehr vorsichtig. Viele nehmen darauf Rücksicht, dass das Virus noch da ist und die Infektionszahlen aktuell wieder steigen.
Aber es drängte sich der Eindruck auf, die Pandemie sei vorerst vorbei. Bis vor wenigen Tagen erwartete die Politik die nächste große Welle erst im Herbst.
Tatsächlich hat die Politik zuletzt kommuniziert, dass sich die Situation erst im Herbst wieder verschärft und als Bürger zog man daraus, dass die aktuelle Lage nicht so schlimm ist. Das ist ein Problem, weil es die Menschen verunsichert. Zudem hat sich die Politik vollständig aus den Regelvorgaben zurückgezogen und die Verantwortung auf die Bürger abgeschoben – ohne klare Angaben zu machen, wie wir dieser Verantwortung nachkommen können.

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Diese Erkenntnis dürfte bei einigen Gleichgültigkeit gegenüber den Maßnahmen hervorrufen.
Wie sehr sich das Virus weiterverbreitet hängt davon ab, wie sich andere verhalten. Wenn ich in geschlossenen Räumen eine Maske trage, andere aber nicht, kann ich mit meiner Verantwortung an der Infektionslage sehr wenig verändern. Das kann zu Gleichgültigkeit oder aber auch zu Hilflosigkeit führen. Wir wissen dann gar nicht mehr, was wir tun können. Und das kann wiederum Widerstand hervorrufen.
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Inwiefern?
Indem ich die ganze Situation nicht mehr verstehe, habe ich auch keine Lust mehr bei jeder Gelegenheit eine Maske aus der Tasche zu ziehen. Ich werde gleichgültig und leichtsinnig. Oder ich zeige dann gezielt, dass ich mit dem Durcheinander nichts mehr zu tun haben will.
Da hat die Politik mit dem Ende der Maßnahmen wohl ihre eigene Gesundheitspolitik boykottiert.
Das ist schwer zu sagen, weil unklar ist, wie die Gesundheitspolitik der Bundesregierung aktuell aussieht. Einerseits versucht der Gesundheitsminister vorsichtig mit der Pandemie umzugehen, während die FDP an ihren Vorstellungen von Freiheiten festhält. Das führt zu widersprüchlichen Aussagen und verunsichert die Bürger. Auch die Glaubwürdigkeit der Kommunikation steht damit auf dem Spiel. Ist die Kommunikation inkonsistent, dann überzeugt sie auch nicht.
Aber die Bürger haben in den letzten Jahren auch gesehen, was passiert, wenn man sich nicht an die Maßnahmen hält. Die Verantwortung könnten sie selbst übernehmen, wenn es die Politik schon nicht tut.
Viele halten sich auch noch an die Maßnahmen. Einige verzichten auf Großveranstaltungen oder treffen sich nur im Freien. Aber viele machen das eben auch nicht und wenn es bei dieser Uneinigkeit keine klaren Vorgaben gibt, dann laufen die Verhaltensweisen eben auseinander. Und das bedroht dann nicht nur das Vertrauen in die Politik, sondern auch unseren Frieden. Zwischen Menschen, die ohne und mit Maske einkaufen gehen, wird es Feindseligkeiten geben.
Wie ließe sich das ändern?
Einheitliche Kommunikation ist immens wichtig, denn Politik tritt uns im Zusammenhang mit Corona als Expertengremium gegenüber, von dem wir hoffen, dass es uns sagt, wie wir uns am besten verhalten sollen. Die Glaubwürdigkeit solcher Experten hängt davon ab, wie stark wir unterstellen, dass sie wirklich am Thema interessiert sind. Gerade erweckt die Politik aber den Eindruck, dass es weniger um die Sachfrage Corona, sondern viel mehr darum geht, Wähler zu gewinnen.
Wir erwarten demnächst den Expertenbericht, der die bisherigen Maßnahmen bewerten soll. Da wird auch deutlich werden, wie schlecht die wissenschaftliche Basis für politische Empfehlungen zum Umgang mit Corona ist.
Wie meinen Sie das?
Für mich ist es völlig unverständlich, dass nach einer langen Zeit mit Einschränkungen nicht massiv in wissenschaftliche Programme investiert wurde, die uns bei der Klärung vieler Fragen geholfen hätten. Hätte sich die Politik auf zuverlässige wissenschaftliche Daten beziehen können, wäre sie glaubwürdiger gewesen.
Und wer ist Schuld daran?
Es fehlt in weiten Bereichen der Politik ein Verständnis dafür, was evidenzbasierte Präventions- und Interventionsmaßnahmen sind. Die Wissenschaft ist in der Lage viele Studien zusammenzufassen und daraus Empfehlungen abzuleiten. Aber das setzt natürlich voraus, dass es entsprechende finanzielle Investitionen gibt. Aus dem Gremium, das den Evaluationsbericht vorlegen soll, höre ich, dass die zu wenig Personal haben. Das ist eine völlig lächerliche Situation. Die Zusammensetzung dieses Gremiums ist weitestgehend politisch bestimmt, was offensichtlich kontraproduktiv ist.
Aber Karl Lauterbach ist doch wissenschaftlich versiert und sollte eigentlich wissen, wie man solche Gremien besetzt.
Bei der Zusammensetzung des Evaluationsgremiums sind aber zu viele andere Leute beteiligt, die diesen ganzen Prozess überhaupt nicht verstanden haben.
Das heißt, Sie erwarten sich von dem Bericht nicht viel?
Ich will nicht vorverurteilen, aber die Begründung von Christian Drosten, der ausgetreten ist, weil die Arbeitskapazitäten fehlen, kann ich gut verstehen. Gemessen daran, was bei dieser Pandemie auf dem Spiel steht und was bei einer guten evidenzbasierten Evaluation herauskommen könnte, erzeugen die fehlenden Investitionen beim Personal bei mir völliges Unverständnis.
Noch einmal zurück zu den Corona-Maßnahmen, die im Herbst möglicherweise wieder verschärft werden müssen: Welche Maßnahmen würden von der Bevölkerung noch mitgetragen werden und wo droht Widerstand?
Ich befürchte, dass die Infektionen sich schon im Sommer dramatisch mehren, die Politik aber wieder ewig nicht reagieren wird. Leichtere Maßnahmen, wie das Tragen von Masken werden eher möglich sein. Vielleicht gehen wir sogar still weinend wieder härteren Maßnahmen entgegen.
Problematisch könnten wieder Anti-Corona- Demonstrationen werden, die inhaltlich nicht von Corona selbst, sondern von einem Widerstand gegen jegliche politischen Maßnahmen getrieben sind. Bei den Demonstrationen im letzten Herbst wurden die Corona-Maßnahmen nur instrumentalisiert, um eigentlich den grundlegenden Widerstand gegen die parlamentarische Demokratie zu äußern. Diese Aktionen könnten wieder massiv zunehmen.
Glauben Sie, dass ein Lockdown von der Bevölkerung mitgetragen würde?
Das hängt mit davon ab, wie streng die Leute bestraft werden, die sich nicht daran halten. Eine erneute deutliche Verschärfung der Corona-Maßnahmen würde in jedem Fall zu einer Polarisierung führen. Manche, wahrscheinlich viele, würden resignieren, andere protestieren. Die Stimmung würde sich insgesamt massiv verschlechtern, wir würden in Traurigkeit versinken.
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Was müsste die Politik tun, um das zu verhindern und die Maßnahmen gleichzeitig wirkungsvoll zu verschärfen?
Zunächst müssten die wissenschaftlichen Grundlagen für den Umgang mit der Pandemie deutlich verbessert werden. Vieles der unklaren Kommunikation geht auch darauf zurück, dass die Politiker selbst nicht wissen, was sie sagen sollen. Das liegt wiederum daran, dass ihnen die wissenschaftlichen Grundlagen fehlen. Da hätte schon früher massiv in alle wissenschaftlichen Disziplinen investiert werden müssen.
Aber es geht auch darum, diese Informationen an die Bevölkerung zu vermitteln. Das klassische Werbefernsehen ist dabei immer noch das Vorbild. Aber das ist von Vorvorgestern. Ich habe den Eindruck, die Politik versucht von sich aus eine Kommunikationsstrategie aufzustellen. Dabei gäbe es genug Werbeexperten, die hier erfolgreich unterstützen könnten.