Der Markt ist manchmal unbarmherzig, aber meist auch gerecht" - die junge Unternehmerin Marie-Christine Ostermann liest der FDP-Spitze die Leviten. Der Absturz der Partei von fast 15 Prozent auf derzeit um die 5 Prozent ist weitgehend selbst verschuldet, lautet ihre Bilanz des ersten Regierungsjahrs beim sogenannten Freiheitskongress der Liberalen am Samstag in Berlin.
Zum Teil unter großem Beifall der mehr als 500 Zuhörer legt die Frau aus Hamm den Finger in die offenen Wunden der FDP: kein Einhalten von Wahlversprechen, zu wenig Herz, die falschen Ministerien, eine insgesamt schlechte Performance hält Ostermann Parteichef Guido Westerwelle und der gesamten Führungsriege in der ersten Reihe vor.
"Was würde ein Unternehmer nach einem solchen Absturz tun?", fragt sie in den Raum. "Er würde sich neu erfinden und einen neuen Anfang machen", lautet ihre Antwort.
Genau das versucht nun Christian Lindner mit einer neuen Grundsatzdebatte, die bis 2012 zu einem neuen Parteiprogramm führen soll. Der wegen einer Grippe schwer angeschlagene Generalsekretär zeichnet in einem Kurzbeitrag auf, wohin er die Partei in den kommenden Jahren steuern will: mehr Staat als Ordnungsmacht, aber auch mehr Risikobereitschaft. "Die anderen sehen nur die Risikogesellschaft, die FDP will die Chancengesellschaft", lautet der Kernsatz für seine "neue deutsche Identität der bunten Republik".
Bei den Mitdiskutanten ohne FDP-Parteibuch findet Lindner mit diesem Aufruf zur Vielfalt Gehör. So auch beim Bestsellerautor Richard David Precht ("Wer bin ich - und wenn ja, wie viele"). Die aktuelle Auseinandersetzung um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 zeigt für diesen ein enormes Bedürfnis der Bürger, sich zu beteiligen.
Für die breite öffentliche Diskussion gebe es inzwischen das Internet. Die Instrumente des Staates dafür stammten aber noch aus der Geburtszeit des Grundgesetzes 1949. Da gibt es für Precht nur eine Konsequenz: "Den Bürgern muss mehr Beteiligung, mehr Macht gegeben werden."
Diesen Ball nimmt Westerwelle nur vorsichtig auf: "Darüber muss man diskutieren." Wichtiger ist ihm, dass die Politik nicht vor dem Druck von Umfragen bei ihren zentralen Projekten einknickt. "Es darf nicht sein, dass in der Politik nur beschlossen wird, was populär, was gefällig ist."
Jung-Unternehmerin Ostermann sagt: "Vertrauen ist sehr schnell verloren und nur langsam wieder aufgebaut." Wie das bis zu den nächsten Wahlen etwa in Baden-Württemberg im Frühjahr 2011 geschehen soll, dafür hat Westerwelle am Samstag auch kein richtiges Rezept parat.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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"Ich bin wirklich inspiriert und glücklich", so dankt er den Kongressteilnehmern für "tiefe philosophische Einblicke". Die Empfehlungen zu aktuellen Kabinettsumbildungen (Ostermann: "Die FDP hat es versäumt, dass maßgebliche Finanzministerium zu übernehmen") überhört er.
Dass er sich aber weiter mit seiner eigenen Zukunft beschäftigt, lässt Westerwelle auch durchblicken. Er greift einen Spruch aus der Diskussion über die Autorität von Altkanzlern auf: "Sie haben recht: Ex und Alt stimmt moralisch." Und kokettierend mit den eigenen, immer wieder dementierten Rückzugsüberlegungen fügt der Vizekanzler hinzu: "Da habt ihr was zu spekulieren..."