KANZLER Die Stimmung kippt

Die SPD steckt im Umfragetief. Nach der »Wirtschaftsdelle« leidet Gerhard Schröder nun am »Scharping-Knick«. Und der Kanzler findet keinen Weg aus der Krise.

Kanzlerfest in Berlin. Die Bürger stehen Schlange, um die neue Kathedrale der Macht von innen zu sehen. »Du musst ein Schwein sein in dieser Welt. Du musst gemein sein«, schmettern die »Prinzen« abends über den Ehrenhof. Der Hausherr lauscht dem Ratschlager von der Terrasse im achten Stock. Schwein sein? Gemein sein? Scharping schassen?

Um sich hat Gerhard Schröder an diesem Samstag ein paar Freunde und enge Berater versammelt. Auch Meinungsforscher Manfred Güllner ist dabei. Der Forsa-Chef hat neue Daten mitgebracht: Auf die »Wirtschaftsdelle« folgt jetzt der »Scharping-Knick«. Nach jeder Eskapade des Verteidigungsministers schmiert die SPD weiter ab – Richtung 30 Prozent.

»Gerd, schmeiß ihn raus«, raten die Vertrauten beim edlen Barolo. »Ich mach das nicht. Der Rudi tut mir leid«, antwortet der sonst so skrupellose Machtmensch. Dabei bräuchte er nichts nötiger als einen Befreiungsschlag. Denn der Fall Scharping verschärft nur die Krise, in die der Kanzler und SPD-Vorsitzende in den letzten Tagen schlidderte: Bei der Abstimmung über den Mazedonien-Einsatz brachte Rot-Grün keine eigene Mehrheit zustande und SPD-Fraktionsvize Gernot Erler warnt bereits, die könne bei der im Oktober wohl nötigen Verlängerung des Mandats auch »keiner garantieren«; gegen das von Innenminister Otto Schily vorgelegte Zuwanderungsgesetz sperren sich die Grünen; Krankenkassen kündigen Beitragserhöhungen an, und die Konjunktur droht in die Rezession zu kippen.

Die Wirtschaft wird in diesem Jahr entgegen Schröders Ankündigung nicht um zwei, sondern nur um rund ein Prozent wachsen. Im August waren zum ersten Mal seit Regierungsantritt mehr Menschen arbeitslos gemeldet als im Vorjahresmonat. Nun muss der

Kanzler wahrscheinlich mit vier Millionen Jobsuchenden ins Wahljahr 2002 starten. Das Versprechen, die Arbeitslosenzahl auf 3,5 Millionen zu bringen, hat er längst kassiert.

Der zweite Wortbruch bahnt sich bei den Lohnnebenkosten an. Die Koalition hatte zugesichert, die Beiträge zur Sozialversicherung insgesamt unter 40 Prozent zu senken. Obwohl zum Jahreswechsel weitere sieben Pfennig Ökosteuer für die Rentenkasse fällig werden, bleibt der Beitrag bestenfalls stabil. Das gilt auch für die Arbeitslosenversicherung, weil mehr Leute Stütze erhalten als geplant. Auswege sehen Schröders Strategen nicht – nur die Hoffnung auf eine schnelle Besserung der weltwirtschaftlichen Lage. Und selbst daraus ist ein Bangen geworden.

Wirtschaftskompetenz wieder verloren

Längst hat die SPD nicht nur die mühsam eroberte Wirtschaftskompetenz wieder an die Union verloren. Bisher freute sich Schröder im kleinen Kreis darüber, dass seine Partei »trotz Trommelfeuer immer noch auf relativ hohem Niveau« liege. Das ist vorbei – nur 37 Prozent wollen noch SPD wählen. Schlimmer: Im Politbarometer stürzte der Strahlekanzler von seinen 2,0 Sympathiepunkten auf 1,3 und verlor für ein ganzes Wochenende die gute Laune. Bisher glaubte er, die Bürger dächten: »Na ja, der macht das nicht so schlecht.« Nun weiß er es besser.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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»Bundeskanzler ist im Moment ein richtiger Scheißjob«, sagt mitfühlend ein SPD-Ministerpräsident. Vor allem, wenn man bereits sieben Minister binnen dreier Jahre verloren hat – und sich gerade Nummer acht unmöglich macht. Öffentlich beteuern zwar alle ihre Solidarität mit Scharping; in Wahrheit würden ihn die maßgeblichen Sozialdemokraten »lieber heute als morgen vor die Tür setzen«,

sagt einer, der es wissen muss. Schließlich belastet der Liebe-macht-Blindflieger zu allem Überfluss auch die Wahlkämpfe in Hamburg, wo der rot-grünen Landesregierung ohnehin die Abwahl droht, und in Berlin.

Sicherheitshalber ist Schröder schon den Kreis potenzieller Nachfolger durchgegangen – und hat dabei gemerkt, wie dünn seine Personaldecke geworden ist. Schily könnte auch Verteidigung machen und Peter Struck dafür das Innenressort übernehmen – aber

wen dann an die Spitze der Fraktion setzen? Da gibt?s nur noch Franz Müntefering, der aber ist als Generalsekretär ausgelastet. Auch an den Potsdamer Oberbürgermeister Matthias Platzeck hat Schröder gedacht, der aber soll eigentlich bald Ministerpräsident in Brandenburg werden.

Kleine Schonfrist für Scharping

Also gibt es erst einmal eine kleine Schonfrist für Scharping. Es gibt sogar ein paar handfeste Gründe, die – noch – gegen seinen Rauswurf sprechen, etwa die gerade angelaufene Mazedonien-Mission. Der wichtigste aber ist: Schröder kann sich einen neuen Wehrminister im Moment finanziell nicht leisten. Die Beratungen über den Haushalt 2002 stehen an, und damit er einen guten Einstieg in den schwierigen Job hätte, müsste dem Nachfolger ein »Begrüßungsgeld« (SPD-Spott) zugestanden werden – jene Etat-Milliarden, um die Scharping vergebens gefeilscht hatte.

Geld, das der Kanzler an anderer Stelle dringend brauchen wird. Das schlappe Wirtschaftswachstum belastet Hans Eichels Haushalt. Niedrigere Steuereinnahmen, höhere Ausgaben für Arbeitslose sowie Wahlgeschenke für Familien und Mittelständler

machen es schwer genug, die Neuverschuldung im nächsten Jahr wie vorgesehen auf 41 Milliarden Mark zu senken. Und der mühsam ersparte Ruf, dass Sozis doch mit Geld umgehen können, ist einer von wenigen verbliebenen Trümpfen für den Bundestagswahlkampf.

Denn viel fehlt nicht, dann steht Schröder ungefähr wieder da, wo er Ende 1999 stand: vor einem Haufen ungelöster Probleme. Damals halfen ihm erst Kohls schwarze Kassen aus der Klemme, dann demonstrierte er selbst mit seinem Engagement beim Holzmann-Konzern Tatkraft. Und ganz zuletzt zog er sich mit seinem Steuerreformcoup endgültig aus der Patsche und dem Umfragetief. Die Sommertour durch den Osten geriet zum Triumphzug, und alles schien so leicht zu sein: das Leben, die Politik,

der nächste Wahlsieg.

Dieses Mal schleppte sich die Sommerreise dahin, immer wieder unterbrochen vom Mazedonien-Missmanagement, und weit und breit ist kein Holzmann zwo in Sicht – obwohl Schröder eifrig Ausschau hält. Denn natürlich kann der Tatmensch im Kanzleramt, der Politik immer als schnelle, punktuelle Problemlösung verstanden und sich damit profiliert hat, die Hand kaum ruhig halten. Ständig ist er auf der Suche nach dem Thema, mit dem er punkten kann. Wenn bei VW das Beschäftigungsmodell »5000 mal 5000« zu scheitern droht, macht der Genossenboss die Rückkehr zum Verhandlungstisch zur Chefsache. Wenn die Bahn ihre Reparaturwerke schließen will, beordert er Bahnchef und Gewerkschaftsvorsitzenden zu sich, um anschließend die Rettung von 2000 Jobs zu verkünden. Nur, genutzt hat?s ihm bisher nichts.

Schwacher Trost: Inzwischen gibt es keinen mehr, der Schröder nach dem Job trachtet. Scharping, der Ende 1999 weinselig davon

träumte, den Kanzler zu beerben, hat sich erledigt. Und Oskar Lafontaine verkündet nur noch per »Bild« und »Bunte«, wie er regieren würde, wenn er dürfte: »Ich stehe für eine andere Politik, für mehr soziale Gerechtigkeit.«

Alleinherrscher Schröder

Alleinherrscher Schröder. Genau das ist zugleich sein Problem: Ihm fehlt der Oskar des Jahres 1998; einer, der den Part übernimmt, die Mühseligen und Beladenen unter der SPD-Klientel zu bedienen. Je näher die nächste Wahl rückt, desto deutlicher zeigt sich, dass Schröder nicht gleichzeitig beide Rollen glaubwürdig spielen kann: die des Machers, der keine Parteien mehr kennt, sondern nur noch moderne Wirtschaftspolitik. Und die des roten Herzenswärmers: »Mich interessiert auch das Schicksal einer Arbeiterfamilie. Deshalb bin ich Sozialdemokrat.«

Überfordert fühlt er sich trotzdem nicht. Gelegentlich befällt ihn aber das Gefühl: Alles muss man selber machen. Sonst geht?s schief. ER ringt der Opposition die Zustimmung für Mazedonien ab – und Peter Struck kriegt nicht mal die eigenen Genossen auf

Linie. ER plant eine eigene Kanzler-Kampagne, die seine Wiederwahl organsieren soll – wer weiß, ob SPD-Geschäftsführer

Matthias Machnig das mit seinem Laden wuppt. Sogar mit seinem Freund und Regierungssprecher ist ER unzufrieden. Uwe-Karsten Heye soll der neuen Regierung nicht mehr angehören. Dem Medien-Kanzler trifft der 60-Jährige zu wenig den Nerv der Zeit. Die junge Journalistengeneration redet lieber mit dem Boulevard-Experten Béla Anda, den er zum Verkaufschef aufbauen will.

»Was in Gerds Kopf vorgeht, weiß keiner«, stöhnen Vertraute. Nur eines ist sicher: Schon jetzt dopt sich Schröder für den Wahlkampf. Seine Droge heißt Edmund Stoiber. Falls der CSU-Chef antritt, weiß der Kanzler, wird er zu großer Form auflaufen. »Das gibt einen Kampf nach dem Motto ?Auf ihn mit Gebrüll?.«

Andreas Hoidn-Borchers / Lorenz Wolf-Doettinchem