Die frühen Neunziger Jahre waren eine schöne und lehrreiche Zeit: die politische Klasse hatte eben begonnen, Billionen (zwölf Nullen!) in blühende Landschaften zu betonieren, für deren ökonomische und soziale Spaltprozesse (wie für Spaltprozesse überhaupt) sie zwar keinerlei analytische Kompetenz, dafür aber reichlich Rhetorik in Form von alldeutschen Volkssolidaritäts-Beschwörungen bereithielt. Greenpeace trat in den Mutationsprozess vom unterhaltsamen Action-Team hin zu der schlaff-dozierenden BAT-IIa-Truppe von heute ein, die mithilfe professionellen Fundraisings ihre Fördermitglieder melkt und sich an Lidl verkauft, damit sie zur eigenen Erbauung Millionenbudgets in irrelevant-abstrakten Kampagnen und Adressdaten-Sammelmodellen ("Patent auf Leben", "Einkaufsnetz") versenken kann.
Ach, wie war es damals doch romantisch. Ich verfolgte das große Geschehen aus einem gemütlichen Labor im Klinikum der Universität Marburg. Wann immer ich (oft!) Pipette, Labor-Kochbuch (ja: es war Gentechnik!) und Sessel verließ um Kaffee zu holen, erblickte ich einen Kupferstich, den ich an die Innenseite der Tür gehängt hatte. Er zeigte einen frühneuzeitlichen Wunderdoktor bei der Vertriebstätigkeit seiner abstrusen Therapien. Und das Motto: Populus vult decipi, decipiatur - das Volk will betrogen werden, betrügen wir es.
Es war sehr romantisch
Auf dem Rückweg, als Jongleur eines halben Dutzends Kaffeetassen, ließ es sich nicht vermeiden, auch die Außenseite der Labortür zu Gesicht zu bekommen. Da hing ein GGS (Großes Gelbes Schild): "Kontrollbereich. Radioaktiv". Wir tranken friedlich unseren Kaffee (der die vom GGS markierte Laborgrenze nicht hätte passieren dürfen) und markierten ein paar Antikörper oder so was mit einem Schüsschen Jod 125. Wie gesagt: Es war sehr romantisch.
Seit dieser großen Zeit empfinde ich keine Angst mehr vor Atom und Gen. Vielleicht wäre ein wenig gut, aber ich empfinde keine Angst und wenig Sorge. Furcht empfinde ich vor Politik, insbesondere in der Folge des chronischen Orientierungsverlusts der westdeutschen Linken. Ein wenig Radioaktivität, ein Stückchen DNA, damit lässt sich's umgehen. Man muss halt wissen, wie.
Nicht so leicht zu stoppen
Mit decipiatur geht das nicht: Die Blablabla-Pumpe des politisch-massenmedialen Komplexes, die aus dem Funktionär der Sozialistische Jugend Deutschlands und deren hypermarxistischen Bezirks Braunschweig, Sigmar Gabriel, jene seltsame Schimäre aus Parteirechtem, Weltklimaretter und Anti-Atomaktivisten geformt hat, diese Decipiatur-Pumpe hat keine Kontrollstäbe, Ablassventile und Notstromaggregate, mit denen sie sich so einfach stoppen ließe wie ein ungezogener Kernreaktor.
Das ist schlecht. Denn so dringt durch all das Sommerloch-Getöse über Atom-Störfälle der niedrigsten und zweitniedrigsten Kategorie nicht durch, was eigentlich gesagt werden müsste: Einen Atom-Ausstieg wird es nicht geben, und schon gar keine "sanfte Energiewende", nach der ein bunt gemischtes 80-Millionen Volk (Volk? Darf man eigentlich "Volk" sagen?) unter Windrädchen in Wohlstand, ewigem Frieden und finaler Gerechtigkeit das Weltklima rettet. Es wird nicht passieren.

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Da müsst ihr jetzt durch!
Populus! So bitter es ist. Da müsst ihr jetzt durch: Nach ihren transgalaktisch bejubelten, rasenden Mega-Erfolgen bei der Errichtung einer alltoleranten, menschenfreundlichen, gender-gemainstreamten und multikulturellen Gesellschaft, nach der Befreiung der deutschen Universität von Ordinarien und akademischem Niveau, nach ihren exorbitanten Triumphen in der Schulpolitik, ihren mächtigen Meistertaten bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und dem heroischen Versuch, mittels internationaler Entwicklungshilfe-Initiativen nicht nur Mümmelmannsberg und Hasenbergl, sondern gleich den ganzen Rest des Planeten auf Sozialhilfe zu setzen, wird es der deutschen Linken leider nicht gelingen, unsere Republik von der Kernenergie-Versorgung abzuschneiden. Schluchz.
Es wird deshalb keinen Ausstieg geben, weil die Grundlast gesichert sein muss - immer, rund um die Uhr und überall muss genügend Strom bereitstehen. Immer. Immer. Immer. Alle wissen: Wenn der Strom auch nur ein ganz klein bisschen ausfällt, ist das Gekreisch gigantisch. Wie im vorletzten Winter, als ein paar Strommasten umkippten und ein paar tausend Menschen ohne Elektrizität dastanden - großes Zeter, mächtiges Mordio. Ein Land, in dem der Strom ausfällt, nennt man ein Entwicklungsland.
"Bananen? Vielleicht nächste Woche"
Also: Grundlast muss sein. Dass sie nicht befriedigt würde, ist undenkbar: Das wäre so, als stünden wir morgen vor leeren Bäckereien, hofften auf "Bananen? Vielleicht nächste Woche." Wo kommt unsere Grundlast her? Aus Kernenergie und aus Braunkohle. Und allen Sonntagsreden zum Trotz wissen die Regierenden sehr genau, dass das aus ökonomischen Gründen nicht anders geht: Gas ist zu teuer und am Hahn sitzen Wladimir Wladimirowitsch Putin und der Mann, über dessen Haare man nicht spricht. Erdöl en gros zu verstromen ist Irrsinn. Steinkohletechnologie ist für die Mittellast, zum raschen Hoch- und Runterfahren geeignet, teuer und nicht für den Dauerbetrieb optimiert. Wir haben einige Laufkraftwerke an Flüssen, aber zu wenig große Ströme und viel zu viele Menschen.
Deshalb sagt, wer "Sofort abschalten" quakt: "Immer feste einheizen. Lasst uns Braunkohle verfeuern!" Nur zu: Tönt ruhig rum. Blöderweise seid ihr aber genau die selben Jungs und Mädels, die uns erzählen möchten, dass der Planet demnächst im Hitzekollaps wegglüht, alle niedlichen Tierchen und zarten Pflänzlein jämmerlich eingehen und die Malaria Mannheim entvölkern wird. Passt das zusammen? Nein, das passt überhaupt gar nicht zusammen. Doppeldenk ist aber im Koordinatensystem der seit der moralischen Katastrophe von 1968 innerlich erodierten intellektuellen Substanz der westdeutschen Linken absolut kein Problem. genau so wie es für sie keine Schwierigkeiten macht, Abtreibungen für ein stolz erkämpftes Recht, einen achtzelligen Embryo im Reagenzglas aber um jeden Preis der Welt immer, überall und unbedingt für schützenswert zu halten. Denn bei letzterem ist ja der evil scientist im Spiel, der allböse Technokrat und Ingenieur, der um des nackten Profits willen "Gott" (den man doch so überaus eifernd bekämpft hatte) "zu spielen." Um wie vieles geerdeter ist da doch ein redlicher CSU-Mann, der den Herrn und seine irdischen Agenturen liebt und preist, um sodann ein klein bisschen vögeln zu gehen.
Und dann werden sie Atomkraftwerke bauen
Essenziell geht es also um dies: Wir können unsere 17 Kernkraftwerke stilllegen, die altbewährte heimische Braunkohle in die Atmosphäre entlassen und den Klimakatastrophisten tröstende Befriedigung durch Bekenntnisreden, Forschungsgelder und neue Supercomputer gewähren. Die Regierenden wissen genau, dass dies eine Konsequenz der Symbolpolitik des Atomausstiegs ist, und deshalb haben sie unter möglichst wenig Aufsehen längst massenhaft neue Kohlemeiler genehmigt. Wir können unsere 17 Kernkraftwerke stilllegen, ultraehrgeizige Klimaziele verfechten und in aller Stille Atomstrom bei den Nachbarn einkaufen - zunächst einmal bei den Kernkraft-Königen von Europa, den Franzosen. Alsdann werden die übrigen Nachbarn bemerken, dass fossile Brennstoffe immer teurer werden und selbst Ozeane von Rapsöl unsere Grundlast eben nicht befriedigen werden. Und dann werden sie, tata tata tata: Kernkraftwerke bauen.
Und was aus dem Transformator hinten rauskommt, das werden sie uns verkaufen. Deutschland wird dann KKW-frei sein, aber einen Atomausstieg wird es nicht geben, denn die Kraftwerke werden zwar jenseits der Grenzen stehen, aber wir werden sie bezahlen, wir werden sie nutzen, wir werden von ihnen profitieren - außer natürlich vom kerntechnologischen Fortschritt, der dann andernorts produziert wird.
Er glaubt an den Weihnachtsmann
Populus vult decipi - wer glaubt, Deutschland werde den "Ausstieg aus der Atomenergie" schaffen, hängt fest in den Endmoränen der Achtziger-Jahre-Debatten: Er glaubt an den Weihnachtsmann und daran, dass die großen Entscheidungen in Berlin getroffen, die Politik auf nationalstaatlichem Niveau bestimmt werden und die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt (derzeit noch, vor China) im 21. Jahrhundert Politik machen kann, wie in Bürgerinitiativen-Reminiszenzen schwelgende Studienräte sie gern machen würden.
Dass sich die "Neue Linke" vom ohnehin arbeitenden Teil der Bevölkerung, den sie als Avantgarde von seinem Elend zu erlösen versprach, von vornherein vollständig entkoppelt hatte, hat der Soziologe Helmut Schelsky bereits 1975 in seinem wegweisenden Buch "Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen" aufgezeigt. Ganz in seinem Sinne war es deshalb klar, dass diejenigen, die im KKW Krümmel ihr Geld verdienen - und (unsäglicher- und dämlicherweise zu spät eingestanden) Fehler gemacht haben, als unfähige, nachlässige und pflichtvergessene Trottel denunziert wurden; dass eine Agenturmeldung sogleich besoffene Bauarbeiter durch ein schwedisches Atomkraftwerk irren ließ was nicht nur so gar nicht passiert, sondern sich ganz anders schon zwei Wochen zuvor zugetragen hatte.
Am Abgrund der Kernschmelze
In der akademisch-idealistischen Logik der Symbolpolitik sind deutsche Ingenieure dann Spitzenklasse, Ultragenies und Weltmarktführer, wenn sie Umwelttechnologie, Solarzellen und Wärmepumpen konstruieren. Kommt Kernbrennstoff ins Spiel, werden sie zu sicherheitskulturlosen Finsterlingen, die das Volk zynisch ständig knapp am Abgrund der Kernschmelze entlangschlittern lassen, indem sie maliziös ein paar falsch dimensionierte Dübellöcher bohren.
Als die romantischen Tage der frühen Neunziger vorüber waren, wurde der Atomkonsens erfunden - der vermeintliche Ausstieg aus der Kernenergie. Eine Folge davon ist die: Die Politik signalisiert den Betreibern: diese Technologie hat keine Zukunft. Es geht alles zu Ende. Melkt aus den Altreaktoren raus, was rauszuholen ist. Und dann wird alles verschrottet. Und dabei wird erwartet, dass auf diese Weise hochmotivierte Spezialisten herangezogen werden, die exzellente Sicherheitskulturen pflegen, stets über Verbesserungen der Technik sinnieren und bestens garantieren, dass nicht der kleinste Fehler passiert? Wie wäre das wohl, wenn man der Lufthansa morgen sagte: Geflogen wird noch bis 2020. Holt mal noch heraus, was herauszuholen ist, aber bitte die allezeit nur die allerbesten Piloten einstellen, und dass mir ja nie was passiert!"
Es wird nicht funktionieren
Diese Logik funktioniert einfach nicht: Die, wie gesagt, drittgrößte Volkswirtschaft der Welt kann nicht als einziges G8-Land sagen: Igitt, pfui, mit dieser Technik wollen wir nichts zu schaffen haben, denn wir sind märchenhaft reich und können uns all unsere politischen Hobbys mühelos leisten, so wie wir ja bekanntlich auch die mickrige deutsche Wiedervereinigung mühelos aus der Portokasse bezahlt haben. Es wird nicht funktionieren.
Ja: Die Kraftwerke von Krümmel und Brunsbüttel sind alles andere als die sichersten der Welt. Ihre Konstruktion ist archaisch, und vieles was wir heute über Sicherheits-Design wissen, ist nicht einkonstruiert und kann teilweise systembedingt nicht nachgerüstet werden. Roland Koch hat darauf eine Antwort gegeben: Wenn die Dinger alt und morsch werden, dann sollten wir sie rechtzeitig gegen neue, inhärent sichere Reaktoren austauschen. Und wären da nicht die inzwischen amtsenthobenen Obernarren von Vattenfall, deren Kommunikations-Chaos sie binnen Tagen in die globale Speerspitze der Anti-Atom-Bewegung verwandelt hat, dann würde auch die öffentliche Diskussion das abbilden: Die Umfragen der letzten Jahre bewegen sich eindeutig in die Richtung, den Atomkompromiss in Frage zu stellen, weil die Bevölkerung instinktiv richtig vermutet: Kein Kohlendioxid, keine Kernkraft und bezahlbarer Strom für alle, das alles kann nicht so recht zusammenpassen. Populus non vult decipi.