Anderthalb Jahre nach der Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten und 500 Verletzten steht Duisburg an diesem Sonntag erneut im Zeichen des 24. Juli 2010. Die Duisburger entscheiden darüber, ob Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) bis 2015 im Amt bleiben darf oder nicht. Der 56-Jährige ist der erste Oberbürgermeister in der Geschichte Nordrhein-Westfalens, der sich einer Abwahl stellen muss, die aufgrund eines Bürgerbegehrens zustande kam. Die Wahl trägt Züge eines griechischen Scherbengerichts. Vielen Duisburgern geht es dabei weniger um das Schicksal Sauerlands, als um die Zukunft ihrer Stadt.
Tatsächlich ist die 485.000-Einwohner-Kommune zwischen Rhein und Ruhr seit dem Unglück nie zur Ruhe gekommen. Mittlerweile ist sie tief gespalten. Und daran trage ihr oberster Verwaltungschef die Hauptschuld, sagen viele Duisburger: "Wenn er am Tag danach gesagt hätte, wie leid ihm alles tut, dass er sich bei den Opfern und ihren Angehörigen entschuldigt, dass er alles tun wird, um die Katastrophe aufzuarbeiten, wäre er raus gewesen aus der Nummer", sagt Theo Steegmann (56), Sprecher der Bürgerinitiative "Neuanfang für Duisburg". Stattdessen erklärte der studierte Pädagoge Sauerland sechs Wochen nach der Katastrophe das "Ende der Trauerarbeit" und die "Rückkehr der Normalität".
Ein Jahr hat der Oberbürgermeister gebraucht, um sich öffentlich bei den Opfern zu entschuldigen. Solange haben etwa Ewa und Andreas Kozok, die ihre Tochter Anna (damals 24) bei der Loveparade verloren und sich seitdem um ihren fünfjährigen Enkel kümmern, auf ein offizielles Schreiben der Stadt Duisburg gewartet. Dies und sein Auftritt bei der Pressekonferenz am Tag nach der Loveparade, bei dem Sauerland regungs- und emotionslos auf dem Podium saß und den Opfern mehr oder minder eine Mitschuld an dem Verhängnis gab, vergessen die Duisburger nicht. "Das war für mich der Weckruf", sagt Anneliese Haferkamp (58). Die Duisburgerin war vorher nie politisch aktiv. Aber dies wollte sie nicht hinnehmen, diese "Normalität" wollte sie nicht zulassen, "das sind wir der Stadt und den Opfern schuldig", sagt sie. Sie schloss sich der Bürgerinitiative "Neuanfang für Duisburg" an, die in vier Monaten 80.000 Stimmen in Duisburg sammelte und so das Abwahlverfahren an diesem Sonntag erst ermöglichte.
Stimmung ist zum Zerreißen gespannt
Am Vorabend des Bürgerentscheids, der nur durch eine Änderung in der Gemeindeordnung im Mai vorigen Jahres möglich wurde, ist die Stimmung in der Stadt zum Zerreißen gespannt. Duisburg ist in zwei Lager gespalten: Auf der einen Seite stehen Sauerlands Duisburger Parteifreunde, die den letzten CDU-Bürgermeister im Ruhrgebiet stützen, wo und wie es nur geht, ihren Gegnern eine "Hexenjagd" vorwerfen und Sauerland, so etwa beim jüngsten Parteitag, wegen seiner Verdienste um die Stadt demonstrativ feiern. Auf der anderen Seite steht ein breites Bündnis aus parteilosen Bürgern, aber auch aus Anhängern der SPD, Linken, FDP, Teilen der Grünen und Gewerkschaften. Sauerland wirft ihnen parteipolitische Motive vor. Man wolle ihn, den letzten CDU-Bürgermeister im Pott, weg haben. Die SPD solle wieder ans Ruder kommen.
Dagmar Zimmermann geht in die Luft, wenn sie dies hört: "Meine Schwiegertochter und mein Sohn waren bei der Loveparade, beide sind dem Unglück nur knapp entkommen, ich habe zu Hause mit meinem zweijährigen Enkelkind gewartet und gedacht, meine Kinder sind tot." Ihre Tochter, ausgebildete Krankenschwester, wollte einer Sterbenden helfen, durfte es aber nicht, "darunter leidet sie noch heute". Sauerland habe dafür bislang keine Verantwortung übernommen. "Und nur dies ist der Grund, warum ich hier stehe. Sauerland soll sich zu seiner politischen und moralischen Verantwortung bekennen", sagt die 58-jährige Duisburgerin. Und weil er dies nicht tut, trommelt sie mit einem blauen Button am Revers seit Tagen in der Eiseskälte vor dem weißen Zelt der Bürgerinitiative in der Duisburger Innenstadt für die Abwahl.
Sauerland ficht das alles nicht an. "Der Spiegel" hat den einstigen Berufsschullehrer, der seit 2004 im Amt ist, als "Findling" beschrieben, der sich nicht bewegen lässt. Da ist etwas dran. Sauerland unterscheidet hartnäckig zwischen Schuld und Verantwortung. Schuld habe er keine, weil die Zuständigkeit der Stadt am Veranstaltungsgelände endete. Gegen die mutmaßlichen 17 Schuldigen ermittle schließlich die Staatsanwalt, er gehört nicht dazu. Deswegen wollte er sich zunächst auch nicht entschuldigen, weil dies einer "Vorverurteilung" gleichgekommen wäre, sagte er in Interviews. Verantwortung trage er, aber nur zu einem einem Fünfundsiebzigstel, wie jedes der 75 Ratsmitglieder.
"Sauerland lebt in seiner eigenen Welt"
Der möglicherweise vor der Abwahl stehende Oberbürgermeister merkt offenbar nicht mehr, wie er mit diesen Rechnungen viele Duisburger auf die Palme bringt. "Er lebt inzwischen in seiner eigenen Welt", ist der Tenor unter den Bürgern. Ex-Oberbürgermeister Josef Krings (SPD), der die einstige Kohle- und Stahl-Stadt von 1975 bis 1997 regierte, bringt das Problem Sauerland im Gespräch mit stern.de auf den Punkt: "Ein Oberbürgermeister muss präsent sein. Er ist das Gesicht einer Stadt. Wenn sich aber jeder Vereinsvorsitzende überlegen muss, ob man den ersten Mann der Stadt einladen kann, hat diese Stadt kein Gesicht mehr." Sauerland sei für ihn eine tragische, gebrochene Figur. Er sei zunächst ein guter Bürgermeister gewesen. "Meine Nachfolgerin Bärbel Zieling regierte die Stadt authistisch. Sauerland hob sich davon wohltuend ab. Er war nah an den Menschen, jetzt versteckt er sich vor ihnen", sagt der 85-Jährige. Die Verantwortung gehöre aber zur politischen Kultur, so Krings.
Die letzte Chance, verlorenes Ansehen zurückzugewinnen, ließ Sauerland am Samstagmittag verstreichen. Julitta Münch hatte den Oberbürgermeister zu einer Diskussionsrunde auf das Podium von "Hallo Ü-Wagen", einer beliebten WDR-Radiosendung, in die Duisburger Innenstadt eingeladen. Der Titel der Sendung: "OB auf Abruf – Mehr Macht für die Bürger". Sauerland wollte nicht. "Politisch unklug", meint Moderatorin Münch. "Er hätte sich menschlich zeigen und nur gewinnen können."

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Stattdessen machte Adolf Sauerland Wahlkampf: In einer Broschüre weist er auf seine Erfolge für die Stadt hin. In der türkischen Zeitung "Hürriyet" ruft er alle türkisch-stämmigen Duisburger auf, bei der Wahl am Sonntag gegen die Abwahl zu stimmen. Sauerland sieht darin offenbar seine letzte Chance: Denn auch wenn 91.250 Duisburger, also 25 Prozent der Wahlberechtigten, für die Abwahl stimmen, könnte er dennoch im Amt bleiben. Dazu müsten sich genauso viele Wähler gegen seine Abwahl entscheiden.
Größtes Bürgerengagement seit der Stahlkrise
Sollte es dazu kommen, "ist dies eine demokratische Entscheidung", sagt Bürgerinitiative-Sprecher Theo Steegmann, "die wir akzeptieren müssen. Für die Stadt bedeutet dies jedoch Stillstand." Viele Duisburger sehen nicht ganz so schwarz: "Die Proteste gegen Sauerland zeigen, dass den Duisburgern ihre Stadt wichtig ist. Ein solches Engagement habe ich seit der Stahlkrise vor 25 Jahren nicht mehr erlebt", sagt Anneliese Haferkamp.
Mittlerweile gingen die Bürger auch gegen andere Missstände in der Stadt, von denen es einige gebe, auf die Straße. "Wir sind aus dem Tiefschlaf erwacht", sagt Petra Swegat (53). Sogar lachen können die Duisburger über ihren ersten Mann inzwischen wieder: Schuld daran ist der Karikaturist Martin Tazl (38). Er hat die Comic-Figur "Der kleine Bürgermeister" erfunden, die auffallende Ähnlichkeit mit Adolf Sauerland hat. In einen der Strips versucht Sauerland den traurigen Hundeblick seines Vierbeiners Fips nachzuahmen. Den brauche er für seine "Mitleidsnummer, wenn mich die bösen Duisburger aus dem Amt jagen."