Meinung Die düstere Welt des Friedrich M.

Friedrich Merz steht hinter dem Pult am Bundestag
Friedrich Merz steht unter immensem Druck, und die Deutschen sollen das auch erfahren
© IMAGO/Halil Sagirkaya / Imago Images
Die Krisen der Welt lasten auf Friedrich Merz. Der Kanzler beschreibt sie in seltener Dramatik, beschwört einen Schicksalsmoment. Recht hat er. Aber er muss einen Ausweg weisen.

Die Sätze von Friedrich Merz sind voller Wenns und Obs. Wenn die EU sich für Freihandel entscheidet, dann kann sie handlungsfähig bleiben. Ob Deutschland aus diesem Epochenbruch stark hervorgeht, liegt an uns selbst. Wenn wir in einer solchen Lage immer noch kleinteilig herummäkeln, dann haben wir die Prioritäten nicht verstanden. So sagt es der Bundeskanzler.

Die Botschaft seiner Regierungserklärung am Donnerstag ist eindeutig: Der deutsche Wohlstand ist nicht mehr gewiss. Der Frieden ist nicht mehr gewiss. Beides ist an Bedingungen geknüpft, die hart erkämpft werden müssen. Und die sich in diesen Tagen entscheiden. 

"Wir sind fest entschlossen, dass Deutschland nicht zum Opfer werden darf", sagt Merz und beschwört: "Wir sind kein Spielball von Großmächten." Er spricht die andere Möglichkeit nicht aus, aber sie scheint als Gegensatz auf: politische Irrelevanz, wirtschaftlicher Niedergang, Ausweitung von Krieg.

Merz gibt einen Einblick in sein Seelenleben

Merz zitiert im Laufe seiner Rede den Historiker Karl Schlögel und dessen Friedenspreisrede über das "Wegbrechen eines Erfahrungshorizonts, in dem man groß geworden ist und wo alles, was man im Laufe eines Lebens zusammengetragen hat, infrage gestellt, entwertet scheint, ja in Trümmern liegt". Das Zitat ist wohl nicht nur als Weckruf an die Deutschen zu verstehen, sondern auch ein Einblick in sein eigenes Seelenleben, in die düstere Welt des Friedrich Merz.

Manchmal muss man sich kneifen, wenn man diesem Bundeskanzler so zuhört. Hatte nicht sein Vorgänger, Olaf Scholz, im Sommer 2024, also vor noch nicht allzu vielen Monaten, ein Wirtschaftswunder angekündigt? Einen Wachstumsturbo? Sich als großer Friedenskanzler inszeniert? All das wirkt wie aus einem anderen Zeitalter. Dabei sitzt jener Scholz ganz hinten im Plenarsaal, während Merz spricht.

Friedrich Merz hält an diesem Tag keine "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede à la Winston Churchill. Aber der Bundeskanzler konfrontiert die Deutschen deutlich wie nie mit dem Sturm, der in seiner Welt von morgens bis abends wütet. Mit der Feindseligkeit der neuen Unordnung um uns.

Der Bundeskanzler manövriert durch eine Schicksalswoche. So sehen es seine Leute; er selbst deutet es an. Erst der Ukraine-Friedensgipfel am Montag in Berlin. Auf der einen Seite des Tisches die Europäer und die Ukraine, auf der Gegenseite die Amerikaner. Ein Tisch als Symbol der tiefen transatlantischen Verwerfung, ja Gegnerschaft. Es ist, wie Merz es sagt: ein Epochenbruch.

Plötzlich geht es um das Schicksal Europas

In den kommenden Tagen geht es in Brüssel um nicht weniger als die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Erstens wird über die Nutzung eingefrorener russischer Vermögen für die Ukraine-Hilfe gerungen. Zwei Jahre lang könnten die Europäer die ukrainische Armee auskömmlich finanzieren. Und falls das nicht klappt? Dafür hat niemand einen Plan. Putin wartet nur darauf.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Zweitens soll nach 26 Jahren Verhandlungen endlich das Freihandelsabkommen zwischen dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur und der EU abgeschlossen werden. Auch das steht plötzlich wieder auf der Kippe. Frankreich, Italien, Österreich und andere haben neue Sorgen. Und Südamerika wendet sich langsam, entnervt von der EU, in Richtung Asien ab.

Die Adressaten dieser Rede von Friedrich Merz sitzen deshalb auch in Brüssel, in anderen europäischen Hauptstädten und in Washington. Hier stehe ich, Friedrich Merz, die Einmannarmee im Sturm der Geschichte. Wie oft kann man das Schicksal so zu seinen Gunsten drehen? 

Merz' große Worte passen zu oft kaum zu dem, was seine Regierung im Land liefert. Ja, es gab das Sondervermögen. Aber was wurde daraus? 

Zuvor an diesem Tag, in der Regierungsbefragung, tritt das offen zutage. Merz selbst muss Rede und Antwort stehen. Chemische Industrie? Macht ihm große Sorgen. Autoindustrie? In der Krise. Energiekosten? Immer noch zu hoch. Ideen für neue Pflegeregeln? Nicht ausreichend. Rente? Jaja, da kommt noch was.

Die Reformpolitik seiner Regierung? Merz: "Ich weiß, dass das alles noch nicht genug ist für die prekäre Lage unserer Wirtschaft." Man würde gern andere Sätze von einem Kanzler hören. Nämlich: einen Plan. Und den bleibt Merz bisher schuldig. 

Wenn aber die Wirklichkeit so dramatisch ist, wie sie Friedrich Merz zeichnet – und das ist sie – dann wird sich nicht an starken Worten, sondern am Handeln entscheiden, ob die Bürger ihrem Kanzler über den Weg trauen.

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