CONTRA: "In den nächsten Jahrzehnten muss weiter Atomstrom fließen."
Von Christoph Koch
Es gibt ein unscheinbares Wort, das in der Atom-Debatte der vergangenen Tage auffällig wenig vorkommt: Kohlendioxid. Denn unübersehbar herrscht bei Sigmar Gabriel und seinen Freunden eitel Freude über das unfassbar törichte Verhalten des KKW-Krümmel-Betreibers Vattenfall - aber man möchte das (sicherheitstechnisch eher wenig aufregende) Geschehen lieber mit Assoziationen vom finsteren Atom-Sensenmann, vom zynischen, verantwortungslosen Strommanager, vom strahlenden Schrotthaufen verbunden sehen als mit kritischen Fragen: Was willst Du nun eigentlich tatsächlich abschalten, Genosse Gabriel, und vor allem: Wie?
Denn kurz vor Krümmel hat die große Koalition, deren Umweltminister Sigmar Gabriel ist, ihr Versprechen gebrochen, das CCS-Gesetz - es regelt die unterirdische Lagerung von Kohlendioxid aus Verbrennungskraftwerken - durchs Parlament zu bringen. Das für den deutschen Klimaschutz-Beitrag entscheidende und zukunftsträchtige Projekt scheiterte an Lokalegoismen, und vielleicht waren auch CDU-Politiker ein bisschen mehr schuld. Aber wie auch immer: Just vor dem Wiederanfahren des KKW Krümmel haben die Herrschenden versagt.
Woher kommt die Grundlast?
Der Weg zu einer der eigenen Klimapolitik entsprechenden Ersatztechnologie für die Grundlast-Sicherung ohne Atom ist einstweilen versperrt. Denn die hängt von der Kohle ab: Wer Kernkraftwerke stilllegen will, muss Kohlekraftwerke bauen, und genau das tut die Bundesrepublik im großen Stil. Sie müsste sich nur irgendwann, und zwar bald, entscheiden, wie sie denn, wenn sie nicht aus dem prinzipiellen Klimaschutz-Konsens ausscheren möchte (zu dem sich mittlerweile auch die USA gesellt haben), handeln will: Wer kein Atom mag, muss verraten, wo er denn hin möchte mit dem Kohlendioxid. Und darüber werden wir bis zur Wahl wenig hören.
Der Zusammenhang ist nicht so simpel, wie Botschaften an das Volk nach Politiker-Kalkül zu sein haben: Sie wissen, und zwar kreuz und quer durch alle parlamentarischen Parteien, dass die erneuerbaren Energietechnologien insgesamt noch einen langen Reifungsprozess vor sich haben: 0,9 Prozent der Kraftstoffe weltweit stammen aus Bio-Quellen. 1,5 Prozent beträgt der Anteil der Alternativen an der globalen Stromerzeugung. Wirkungsgrade sind unzureichend, Erfindungen müssen erst noch gemacht werden. Es mag sein, dass wir in 20 Jahren alle Elektroauto fahren, dann brauchen wir Strom, und zwar zuverlässig und immer - und nicht nur dafür.

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Der Kurzzeit-Stromausfall in Hamburg vom Wochenende, ironischerweise ausgelöst durch den Krümmel-Ausfall, hat gezeigt, welches Chaos schon eine Zehntelsekunde Instabilität im Netz bewirken kann. Für eine großflächige Einspeisung alternativer Energien, die dezentral erzeugt werden, brauchen wir zudem eine ganz andere Netztopologie als heute. Andere Möglichkeiten zur Energiespeicherung. Andere Verfahren zur Netzwiederherstellung und Selbstheilung des Netzes. Und vieles andere mehr.
Wer bezahlt den schnellen Ausstieg?
Und die Zeichen dieser Zeit - mit neuer Rekordverschuldung, Millionen gefährdeter Arbeitsplätze, der Gefahr teilweiser Deindustrialisierung, ein komplexer demographischer Wandel und zunehmende internationale Verpflichtungen - diese Zeichen stehen für jeden, der eine schnelle Totalumformung der deutschen Energiewirtschaft in Richtung Grün fordert, auf Tiefrot. Denn was aus den Hinterzimmern der Politik nicht an die Podien und Podeste dringt, ist dies: Wir können einen forcierten Wandel nicht bezahlen.
Alternativenergien sind subventionsbedürftige Zukunftsprojekte. Sie kosten unser aller Geld. Das war bei der Kernenergie auch so. Aber die Milliarden, die als versenkte Kosten in den bestehenden Reaktoren verbaut sind, müssen, soweit die Anlagen noch gut in Schuss sind, amortisiert werden. Das ist eine Verpflichtung für den Umgang mit dem Volksvermögen.
Deshalb muss die Politik zumindest ihre halsstarrige Blockade der Übertragung von Restlaufzeiten alter auf modernere Reaktoren aufgeben. Wenn schon der Ausstiegskompromiss bestehen bleiben soll, dann muss wenigstens aus den sichersten Anlagen herausgeholt werden, was herauszuholen ist.
Sanftes Umsteuern
Deshalb möchte Angela Merkel ein sanftes Umsteuern in der Atompolitik einleiten. Als Physikerin weiß sie, dass die Gefahren der Kerntechnik gegenüber anderen Risiken des modernen Lebens noch immer in grotesk verzerrter Übersteigerung wahrgenommen werden. Und als mittlerweile geübte Populistin weiß sie auch, dass die Deutschen ihre Prioritäten gerne ändern, wenn es an den Geldbeutel geht: Sollte die SPD tatsächlich glauben, die Bundestagswahl, die just in die Zeit fallen wird, in der die schwerste Wirtschaftskrise der bundesrepublikanischen Geschichte Hunderttausende Familien hart treffen wird, diese Schicksalswahl werde sich an der Frage der Zukunft unserer 17 Kernkraftwerke (die Bevölkerung von Biblis übrigens möchte ihres gern behalten, am besten für immer) entscheiden, dann wird die SPD einen schwarzen Sonntag erleben: Öko, so breit dessen Popularität heute auch scheint, ist eine Mittelstands-Ideologie. Als Massenmagnet für die Breite des traditionellen sozialdemokratischen Spektrums ist sie zu schmalbandig. Darauf jede Wette.
Besser als das heutige Gezerre wäre es vielleicht gewesen, Deutschland wäre auch inländisch konsequent drangeblieben an der Entwicklung der Kernenergie, hätte offensiver modernisiert, die Möglichkeit zum Bau neuer Reaktoren, deren Sicherheitsniveau nochmals um ein vielfaches höher ist, offen gehalten. Dann hätten wir heute in der Klimadebatte die Flexibilität eines Obama, Sarkozy oder Brown: Sie alle werden Lücken in der nationalen Energiesicherheit mit kerntechnischen Anlagen schließen, und sie alle können mit ihrer Hilfe der Anforderungen der modischen Klimapolitik wesentlich leichter Herr werden.
Insofern: Ja, Vattenfall ist töricht bis zur Idiotie. Nach dem peinlichen Zwischenfall von vor zwei Jahren, nach 300 Millionen Umbaukosten in Krümmel und einer Million Ausfallkosten pro Tag hätte das Unternehmen während des Wiederanfahrens in höchster Wachsamkeit sein müssen, hätte gegebenenfalls auch übereifrige Meldefreude gegenüber der zuständigen Atomaufsicht bestehen müssen. Für jeden, der für die Nutzung der Kerntechnik eintritt, ist es blamabel, mit Dilettanten solchen Kalibers in einem Boot zu sitzen.
Die Kunst des Machbaren
Trotzdem löst die öffentliche Erregung, die ohnehin immer kurzlebiger wird, die Probleme der langen Linie nicht - nicht für wahlkampftrunkene Parteipolitiker, nicht für das Land. Für die nächsten Jahrzehnte wird daher aus unseren Steckdosen weiter Atomstrom fließen, und fließen müssen. Vielleicht kommt er zunehmend über die Grenze herein, vielleicht ändert sich hierzulande doch noch alles - ein Schnell-Umstieg auf andere Energieträger jedenfalls liegt nicht im Handlungsspielraum von Politik, die ja bekanntlich die Kunst des Machbaren ist: Nicht einmal die Entwickler modernster Alternativ-Technologien wollen sich sofort ans Netz treiben lassen. Sie brauchen noch Entwicklungszeit. Und die Kohle massiv hochzufahren, ohne die Lösung für deren Klimagase zu bieten, das geht im einigermaßen unverwirrten ökologischen Gewissen nicht zusammen.