In mehr als jedem dritten Bundesland erfassen die Schulämter keine rechtsextremen Vorfälle an Schulen. Das ergab eine Abfrage von stern und RTL bei den Kultusministerien der Länder. Betroffen sind demnach Bayern, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz.
Die genannten Länder stützen sich auf Polizeistatistiken, die tendenziell ungeeignet scheinen, das Ausmaß des Phänomens realitätsnah abzubilden. In anderen Bundesländern liegen die Zahlen der Polizei oft deutlich niedriger als die von den Schulämtern erfassten Zahlen.
In Baden-Württemberg zum Beispiel registrierte die Polizei im vergangenen Jahr nur acht rechtsextreme Straftaten mit dem Angriffsziel Schule, die Schulen selbst meldeten 53 rechtsextremistische Vorfälle. In Hessen lag das Verhältnis bei fünf zu 167. In Brandenburg zählte die Polizei 336 rechtsextreme Straftaten an Schulen. Die Schulämter aber erfassten 605 Vorfälle, die als fremdenfeindlich oder rechtsextremistisch gewertet wurden, wie die Abfrage im Rahmen einer crossmedialen Recherche zum Rechtsruck an Schulen ergab.
Rechtsextreme Vorfälle an deutschen Schulen
In Baden-Württemberg stieg die Zahl der rechtsextremen Vorfälle an Schulen von 12 im Jahr 2018 auf 53 im Jahr 2024. Das geht hervor aus Zahlen der Schulämter. Dieser Höchststand wird im Jahr 2025 noch überboten werden: Bis Oktober dieses Jahres wurden bereits 65 rechtsextreme Vorfälle erfasst.
In Bayern erfassen die Schulämter keine rechtsextremen Vorfälle. Dafür liefert das bayerische Landeskriminalamt Zahlen zu rechts motivierten Straftaten an Schulen. Im Jahr 2015 lag deren Zahl bei 65, im Jahr 2024 bei 244.
Auch in Berlin stellt die Polizei auf Anfrage Zahlen zur Verfügung. Die rechtsextremen Straften an Schulen haben sich von 37 im Jahr 2015 auf 108 im Jahr 2024 fast verdreifacht. Im laufenden Jahr wurden bis Anfang Oktober bereits 95 gezählt – auch hier deutet sich also für 2025 ein neuer Höchststand an.
Die Zahlen aus Brandenburg gehören bundesweit zu den höchsten: Im Jahr 2016 meldete die Polizei hier noch 92 rechtsextreme Straftaten an Schulen, im Jahr 2024 waren es 336. Die Schulämter verzeichneten fast doppelt so viele rechtsextreme Vorfälle, von denen wohl viele unter der Strafbarkeitsgrenze liegen: 605 rechtsextreme Vorfälle hat es demnach im vergangenen Jahr an Brandenburger Schulen gegeben.
In Bremen gehen die polizeilichen Zahlen nur bis 2020 zurück. Damals wurden fünf rechtsextreme Straftaten an Schulen verzeichnet, im vergangenen Jahr waren es 26. Wegen der Coronapandemie sind diese Zahlen kaum vergleichbar. Ein Aufwärtstrend ist dennoch ersichtlich (2020: 5; 2021: 11; 2022: 13; 2023: 20; 2024: 26).
In Hamburg liegen nur Zahlen aus zwei Jahren vor. Demnach wurden den Schulämtern im Jahr 2023 sieben und im Jahr 2024 zehn Vorfälle mit rechtsextremem Hintergrund gemeldet.
Ein besonders krasser Anstieg zeigt sich in Hessen. Vor der Coronapandemie wurden den Schulämtern nur Vorfälle im niedrigen einstelligen Bereich gemeldet (2018: 1; 2019: 3). Im Jahr 2024 wurden dagegen 167 Vorfälle erfasst. Im Jahr 2025 wird die Zahl erneut im dreistelligen Bereich liegen.
Das Kultusministerium in Mecklenburg-Vorpommern teilt mit: "Es erfolgt keine separate statistische Erfassung rechtsextremer Vorfälle." Auch das Landeskriminalamt kann keine Zahlen zu rechtsextremen Straftaten an Schulen übermitteln. Es erfasst lediglich Straftaten mit dem Angriffsziel Schule, von denen es im Jahr 2024 zwei gegeben habe (2019: 0).
In Niedersachsen reicht die polizeiliche Statistik weiter zurück als in den meisten anderen Bundesländern. Im Jahr 2013 hatte es dort 49 rechtsextreme Straftaten an Schulen gegeben. Im Jahr 2023 waren es schon 140, im Jahr 2024 stieg die Zahl sprunghaft auf 305.
In Nordrhein-Westfalen stieg die Zahl der rechtsextremen Straftaten an Schulen von 194 im Jahr 2014 auf 452 im Jahr 2024.
In Rheinland-Pfalz hat sich die Zahl rechtsextremer Straftaten an Schulen von 23 im Jahr 2017 auf 45 im Jahr 2024 beinahe verdoppelt. Für 2025 deutet sich ein neuer Höchststand an: Bis Ende August wurden bereits 39 Straftaten erfasst.
Das Saarland meldet für das Jahr 2024 16 rechtsextreme Straftaten an Schulen. Zum Vergleich: Im Jahr davor gab es nur acht Fälle.
In Sachsen lag die Zahl der rechtsextremen Straftaten an Schulen im Jahr 2013 bei 59. Im Jahr 2023 waren es mit 122 Fällen schon doppelt so viele, im Jahr 2024 wurde mit 185 Straftaten ein neuer Höchststand erreicht.
In Sachsen-Anhalt lag die Zahl der rechtsextremen Straftaten an Schulen – mit Ausnahme der Coronajahre – in den vergangenen Jahren recht konstant bei um die 70. So auch im Jahr 2023, als 74 Straftaten erfasst wurde. Im Jahr 2024 gab es hingegen mit 175 Fällen einen sprunghaften Anstieg.
Den Aufwärtstrend belegen auch die Zahlen der Schulämter in Schleswig-Holstein. Im Schuljahr 2023/2024 wurden 24 rechtsextreme Vorfälle an Schulen gemeldet, mehr als doppelt so viele wie im Schuljahr zuvor (2022/2023: 11).
Während den Schulämtern in Thüringen im Jahr 2015 74 Fälle von Volksverhetzung oder dem Verwenden von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen (z.B. Hakenkreuz, Hitlergruß) bekannt wurden, waren es im vergangenen Jahr doppelt so viele: 146.
Die Unterschiede dürften eine Reihe von Gründen haben. In Ländern mit besonders niedrigen Zahlen der Polizei werden nur Straftaten gegen Schulen ausgewiesen, also Taten mit dem "Angriffsziel Schule" – dies ist etwa in Baden-Württemberg oder Hessen der Fall. In anderen Ländern wie Brandenburg werden Straftaten an Schulen ausgewiesen, also Taten mit der "Tatörtlichkeit Schule".
Doch auch dort registriert die Polizei nur strafbare Handlungen. Schulen erfassen hingegen auch Fälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. So ist beispielsweise das Aufmalen eines Hakenkreuzes an die Schultafel nicht zwangsläufig strafbar. Ein Klassenraum gelte nicht als "öffentlich" im Sinne des §86a StGB, erklärt Christoph Safferling, Professor für Strafrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg gegenüber stern und RTL. Werde das Symbol außen auf die Wand des Schulgebäudes gepinselt, sei der Straftatbestand hingegen erfüllt.
Rechtsextremismus an Schulen wird nicht überall erfasst
Obwohl die Polizeistatistiken also tendenziell niedrigere Zahlen ausweisen, erfolgt eine systematische schulische Erfassung von rechtsextremen Vorfällen an Schulen nur in zehn Bundesländern. Neben Baden-Württemberg, Brandenburg und Hessen zählen dazu Hamburg, das Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen. Nur in Sachsen registrierte die Polizei im Jahr 2024 mit 195 Fällen knapp 40 mehr als die Schulen selbst. Im Saarland gab es keine Diskrepanz, Thüringen lieferte auf Nachfrage keine aktuellen Zahlen. In den restlichen Ländern waren die Unterschiede nicht ermittelbar, weil die dortigen Schulämter die Vorfälle pro Schuljahr erfassen, die Polizei die Straftaten aber pro Kalenderjahr erfasst.
Die Zahlen der Bundesländer sind untereinander schwer zu vergleichen. In der Statistik des Kriminalpolizeilichen Meldediensts, auf denen die Zahlen der Polizei basieren, bilden Straftaten an Schulen keine eigene Kategorie. Daher wertet jedes Land die Daten nach eigenen Kriterien aus. Auch die schulische Dokumentation erfolgt nicht nach einheitlichen Kriterien.
Mehr zum Thema: Eine große TV-Dokumentation zum Rechtsruck an Schulen läuft am Donnerstagabend, 30. Oktober, um 22.30 Uhr bei RTL unter dem Titel "stern Investigativ: Inside Schule".
Das gesamte Rechercheteam: Khalil Awad, Catrin Boldebuck, Christian Esser, Jonas Fedders, Félice Gritti, Manka Heise, Jana Luck, Luc Oeppert, Ronja Lou Ruland, Katja Scholze, Maria Sáenz, Alana Tongers
Koordination: Félice Gritti, Tim Kickbusch
Verifikation: Michael Lehmann-Morgenthal