S-Bahnhof Nöldnerplatz, gegen 11 Uhr, im Februar: Zwei Jugendliche springen aus dem Waggon, streiten heftig, es geht um einen geklauten Personalausweis. Sie rennen die Treppe herunter, bleiben stehen, bauen sich voreinander auf. Plötzlich schlägt einer der beiden mit voller Wucht zu. Der Andere sinkt zu Boden, das Auge schwillt auf Größe einer Tomate an. Eine alte Dame schreit auf, ruft die Polizei. Zu spät. Der Schläger hat längst das Weite gesucht.
Alltag in Berlin, der deutschen Hauptstadt. Immer wieder Prügeleien. Im Bus. Der S-Bahn. Auf öffentlichen Plätzen. Am vergangenen Samstag hätte ein 19-jähriger Schüler einen 29-jährigen am S-Bahnhof Friedrichstraße beinahe getötet. Das Video der Überwachungskamera zeigt, wie der Schüler gegen den Kopf des Opfers tritt, obwohl es schon regungslos am Boden liegt.
Berlins Innensenator Ehrhart Körting glaubt, der Konsum von Gewaltfilmen habe die Menschen verroht. Die Berliner Verkehrsbetriebe wollen wieder gemischte Streifen - Sicherheitspersonal und Polizei - auf den Bahnhöfen patrouillieren lassen. Union und FDP diskutieren einen Warnschuss-Arrest und höhere Strafen.
1. Mai - Tag der Polizei
Kaum dreht die Debatte hoch, steht in Berlin die nächste Gewaltorgie an: die Kreuzberger Demonstrationen in der Nacht zum 1. Mai. Mindestens 5000 Polizisten aus allen Bundesländern werden in der Hauptstadt zusammen gezogen, um das Schlimmste zu verhindern. 5000!
Dennoch werden auch diesem Jahr wieder Autos brennen, Steine fliegen, Beamte und Demonstranten blutend auf der Straße liegen. Auch diese Bilder werden die Menschen schockieren. Körting (SPD) sagte der "Welt" in einem Interview über den 1. Mai: "Es ist leider ein herausragendes Datum für die Polizei geworden und nicht mehr für die Arbeiterbewegung."
Berlin, Hauptstadt der Gewalt?
Statistik und Vergleich
Die Statistik besagt etwas anderes. Demnach ist die Zahl der Straftaten im vergangenen Jahr um 2,5 Prozent gesunken, die Zahl der Körperverletzungen sogar um 5,2 Prozent. Ein bislang wenig beachteter Grund dafür ist die demografische Entwicklung: Es gibt schlicht immer weniger junge Männer.
"Praktisch alle Rohheitsdelikte sind Auseinandersetzungen zwischen jungen Tätern und jungen Opfern", sagt Körting. Auch im europäischen Vergleich sticht Berlin nicht heraus. Die Kriminalitätsrate liegt im Mittelfeld der Hauptstädte, in London, Tallin, Dublin oder Brüssel, immerhin der Sitz EU-Parlaments, ist das Leben gefährlicher. Das entschuldigt keine einzige Berliner Gewalttat, auch ein nervöser Berliner S-Bahnfahrer wird sich mit Zahlen nicht beruhigen lassen.
Aber: Die Videos und Bilder der Übergriffe schaffen einen emotionalen Eindruck, der den Blick auf die Realität verstellen kann. München ist sicherer als Berlin, sogar die sicherste Großstadt in Deutschland: Dennoch schlugen auch dort zwei junge Männer einen Pensionär halbtot. Das Video führte zu einer erregten Debatte in ganz Deutschland.
Der Reiseführer empfiehlt
Der "Lonely Planet", einer der wichtigsten Reiseführer für internationale Touristen, schreibt: "By all accounts, Berlin is among the safest and most tolerant of European cities", in jeder Hinsicht sei Berlin eine der sichersten und tolerantesten europäischen Städte. Es sei gewöhnlich auch nicht gefährlich, nachts allein auf die Straße zu gehen. Eine Warnung spricht der "Lonely Planet" nur für die Stadtteile Marzahn, Lichtenberg und Hohenschönhausen aus - dort sei mit schwulen- und ausländerfeindlichen Attacken zu rechnen.
Körting ist sich der Wechselwirkung von Eindruck und Realität durchaus bewusst. "Neulich habe ich mal einen Wissenschaftler im Radio gehört, der sagte, wenn ich nachts allein in einen finsteren Wald gehe, fürchte ich mich am meisten, bin aber höchstwahrscheinlich objektiv dort am sichersten", sagte er der "Welt". "Und wir haben jetzt eine Situation, in der Menschen mit Kriminalität anders umgehen müssen als früher. Jeder spektakuläre Kriminalfall weltweit wird Ihnen innerhalb von Stunden mit allen schrecklichen Details in unserer neuen Medienwelt präsentiert. Deshalb scheinen alle diese Straftaten viel näher zu sein als früher - aber nur in der Wahrnehmung, nicht objektiv."