Horst Köhler sah sich angeblich als Bürgerpräsident. Aber ausgerechnet mit dem urbürgerlichen Recht auf Pressefreiheit schien er am Ende zu hadern.
Köhler trieb das Thema sichtlich um. Wenn auch anscheinend weniger die immer noch eklatante Zensur in der kommunistischen Republik des Raubtierkapitalismus. Man müsse doch Verständnis haben, dass angesichts der sozialen Spannungen in dem Milliardenvolk „die absolute Meinungsfreiheit nicht oberste Priorität hat“, fand der Bundespräsident. Nein, man sei in China „gut beraten, Geduld zu haben“.
Weniger Geduld hatte er mit der deutschen Presse. Die werfe ihm einen „Schmusekurs“ gegenüber China vor, wunderte sich der Christdemokrat. Überhaupt die deutsche Presse. Gleich mehrfach forderte er seine Landsleute unter den Journalisten im Raum auf, sich zu einer Frage zu äußern, die ihn gerade stark um zu treiben schien: Sei womöglich das Schielen auf die Auflage ein Faktor bei der Berichterstattung? Statt getreulich „das aufzunehmen, was die Fakten sind“?
Als Köhler nicht sofort eine befriedigende Antwort bekam, wiederholte er seine Frage. Präge nicht das wirtschaftliche Interesse an einer hohen Auflage die Berichterstattung?
Vielleicht hatte er sich über einen kritischen Artikel geärgert, der zwei Tage zuvor auf der Titelseite der „Süddeutschen“ geprangt war. Vielleicht war das nur der jüngste in einer Reihe von Verrissen, die ihm nicht gefallen hatten. Aber wähnte Köhler wirklich, dass Stücke über Personalintrigen im Präsidialamt die Käufer in Scharen an die Kioske treiben?
Besonders unpassend war die Attacke des Präsidenten, weil wir in Shanghai von den chinesischen Kollegen genau das Gegenteil gehört hatten. Zwar seien alle Medien im Land weiter in Staatsbesitz, aber zunehmend müssten sich die Blätter am Markt orientieren. Das übe einen heilsamen Zwang aus, sagten einem die Chinesen, zumindest am Rand der Konferenz. Immer öfter versuche man darum, sich am Interesse der Leser zu orientieren, nicht nur an dem der Staatsführung. Trotz der weiterhin gravierenden Knebelung der Presse, die bis heute keine offene Kritik an den Spitzen der Politik in Peking üben darf.
Übrigens sind auch wir Journalisten in Deutschland lieber vom Geld unserer Leser abhängig, als von den Anzeigeneinnahmen aus der Wirtschaft. So wichtig letztere ebenfalls sind. Und so sehr Journalisten beim Schielen auf die Auflage nicht die Fakten verbiegen dürfen.

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Der Präsident schien überrascht, als man ihm in Shanghai dieses Argument auseinandersetzte. Kurios, dass ausgerechnet der angebliche Marktwirtschaftler Köhler diesen Zusammenhang bisher nicht gesehen hatte. Wie sehr er trotzdem darauf insistierte, auf seine Frage eine Antwort zu erhalten – das zeigte, dass ihn das Thema sehr beschäftigte. Wenn auch offenkundig mit mäßiger intellektueller Durchdringungstiefe.
Ein Glück, dass es weder von ihm noch von seiner Nachfolgerin oder seinem Nachfolger abhängt, ob wir unsere Meinungsfreiheit erhalten können. Sie steht im Grundgesetz. Vor allem aber lebt sie davon, dass die Bürger auf ihre Verletzung nicht so reagieren, wie Köhler offenbar auf die mangelnden Bürgerfreiheiten in China: Mit nachsichtiger Geduld.
P.S.: Sollen wir Horst Köhler nun dankbar sein, dass der von der Presse genervte Präsident zumindest mit seinem Rücktritt Schlagzeilen und Auflage macht? Nein, diesen hämischen Kommentar verkneifen wir uns.