Zwischenruf Brotmesser am Herzen

Was als "Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe" verniedlicht wurde, ist der Musterfall einer misslungenen Reform-Operation. Die SPD verblutet daran. Aus stern Nr. 29/2004.

Die CDU begleitet den Eingriff mit Sympathie und Anteilnahme. Sie hat geholfen, das Instrument zu polieren, das Werkzeug für die Operation am offenen Herzen der Sozialdemokratie. Geschnitten wird mit dem Brotmesser. Alles spricht dafür, dass der Patient, dem zur Narkose versichert worden war, es handle sich um die Entfernung entzündeter Mandeln, daran verbluten wird. Anfang 2005, in Nordrhein-Westfalen ist dann bald der Landtag zu wählen, wird die geschundene Herzkammer der SPD erschlaffen. Und die Hinterbliebenen werden den Chirurgen verfluchen, den privat liquidierenden Klinikchef Gerhard Schröder. Was auf der Operationsagenda 2010 so harmlos als Hartz IV notiert war, wird, das ist absehbar, im Desaster enden. Letal.

Musterfall einer überfälligen Operation

Denn der schwere Eingriff ist der Musterfall einer richtig gedachten, aber falsch vollzogenen Reform. Einer notwendigen, einer überfälligen Operation - ausgeführt mit zu grobem Instrument. Mit absehbaren und doch nicht vorsorgend bedachten Komplikationen. An einem hochsensiblen, krisenbewussten und dennoch nicht ehrlich aufgeklärten Patienten. Der Fall Hartz IV illustriert, woran Schröder scheitert. An sich selbst.

Es lohnt sich, Satz für Satz, Wort für Wort, nachzulesen, wie der Kanzler am 14. März 2003 in seiner Agenda-Rede im Bundestag die einschneidendste Kürzung von Sozialleistungen seit 1949 angekündigt hat. Verniedlichend, verschleiernd. "Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und können, zum Sozialamt gehen müssen, während andere, die dem Arbeitsamt womöglich gar nicht zur Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen", sprach Schröder. "Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleichermaßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen. Ich denke, das kann keine erfolgreiche Integration sein", fuhr er fort. "Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistungen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe - auch das gilt es auszusprechen -, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird."

Das Ende einer Sozialstaatstradition

Sechs Sätze in einer langen Rede - die ganze Passage kam auf 13 - über die einzig wirkliche, die mutigste, die riskanteste Reform dieser Regierung - das Ende einer Sozialstaatstradition. Verstanden hat das damals niemand im Volk, und die Experten, die begriffen, flüsterten fortan hinter diskreten Türen. Nach außen wurde das Projekt als bürokratische Vereinfachung kaschiert: "Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe". Aktenzeichen: "Hartz IV". Dahinter verbarg sich eine in den Wirkungen auf mehr als drei Millionen, ja auf die Lebensplanung aller Menschen hochdramatische Kappung der Arbeitslosenhilfe auf das Armutsniveau der Sozialhilfe. Das wäre nur durch eines zu legitimieren gewesen: die ungeschminkte Wahrheit - und ein fantasievolles Arbeitsmarktprogramm mit Kombilöhnen und Steueranreizen.

"Niemand, der länger als ein Jahr arbeitslos ist", hätte Schröder an jenem 14. März sagen müssen, "kann heute noch den Anspruch erheben, in seinem erlernten Beruf, an seinem heutigen Wohnort neue Beschäftigung zu finden. Der arbeitslose Geschäftsführer, der ausgekehrte Ingenieur, der entlassene Schlosser - sie müssen auch weit unter Qualifikation und weit entfernt von ihrer Heimat neu beginnen. Zur Not müssen sie dazu bewegt werden, und deshalb kürzen wir die Leistungen. Das ist bitter, das bringt Härten für viele, aber es ist unvermeidlich. Jeder Job ist besser als keiner. Ich verspreche, dass wir allen einen neuen Job anbieten und Niedriglohn-Jobs attraktiv machen werden."

"Hartz IV" illustriert, woran Schröder scheitert. An sich selbst

Nun aber blitzt das Messer, erscheint der Schnitt allein als brutale, ungerechte, verwüstende Sparoperation. Mit fallender Stütze, mit millionenfachem Offenbarungseid auf 14 Formularseiten, mit erpresster Auflösung von Versicherungen und Altersersparnissen, mit haftbar gemachten Angehörigen, mit Vermögenspolizei im Wohnzimmer.

Und der Staat kann nicht genug Jobs bieten. Also riskiert er ein neues Sozial-Proletariat. Erzwingt eine Fluchtwelle von Ost nach West, denn im Osten gibt es nicht mal mehr Billigjobs, da föhnt die Friseuse schon für 3 Euro 50 die Stunde. Und die kleinen Leute wissen nicht mehr, warum sie jene SPD wählen sollen, die sie doch bedrängt, statt zu schützen. Und die Gewerkschaften gründen ihre eigene Partei. Und Schröder wird arbeitslos.

print
Hans-Ulrich Jörges