Jede Nation lebt in ihrem eigenen Wahn-System. Wer im Ausland Urlaub macht, das eigene Land von draußen betrachtet und das Gastland als Fremder von drinnen, der kann das beobachten, zumindest spüren. Das deutsche Wahn-System und das der anderen. Mir ging das häufig so, wenn ich im Sommer, morgens auf dem Weg zum Bäcker oder ins Café, die Titelseiten deutscher Zeitungen sah. Und mich abwandte, weil schwer erträglich war, was dort aufgeschäumt wurde - und wie. Bedeutungslos. Irrwitzig. Manchmal geradezu paranoid. Wieder daheim, erlebte man, wie das Deutschsein an einem hochkroch, als sei man von Mehltau befallen. Man versank wieder im vertrauten Wahn-System, jeder an seinem Platz und auf seine Weise - auch und gerade der Journalist. Dem Wahn-System entkommt keiner. Einige macht es buchstäblich verrückt, sie werden irre an der Realität und verabschieden sich von ihr. Das werden immer mehr. Die meisten überleben in den Verhältnissen, als Rädchen oder Räder, als Getriebene oder Antreiber. Eingespannt. Ausgeliefert. Unfrei.
Die Wahn-Systeme nähren sich von Aktuellem und Vergangenem. In unserem Fall - wegen des Vergangenen und nie Vergehenden ein besonders schwerer - sind das zwei Komplexe. Der erste, aktuelle: zwanghafte Fixierung auf den Rente-Gesundheit-Steuer-Taumel - dargeboten in der scharfen Kritik des Parlamentarischen Geschäftsführers Schnurz, der entschiedenen Replik des Generalsekretärs Piep und dem fordernden Positionspapier des Verbandspräsidenten Egal. Der zweite, historische: Tunnelblick auf das Unentrinnbare, für das Auschwitz als Chiffre steht. Fremde Wahn-Systeme kreisen um anderes, national kaum weniger Fesselndes: Die Franzosen um Korruption und Kollaboration, die Holländer um postulierte Liberalität und praktizierte Unduldsamkeit, die Italiener um Baci und Berlusconi, die Amerikaner um Geliebt-werden-Wollen und Verhasstsein.
In diesem Sommer aber machen wir Urlaub im eigenen Land. Sind daheim rausgesprungen aus unserem Wahn-System. Die Programmierung, die deutsche, gelöscht, die Festplatte, die überladene, geputzt. Tilt. Irgendwie unschuldig, irgendwie neu, irgendwie ganz anders. Klopfen uns den Mehltau aus den Kleidern - und sindÉ herrje, die Vokabeln sind zu mager, es gehörten fettere herÉ sind einfach nur fröhlich und liebenswert und gastfreundlich. Etwas fetter geschrieben: lebenssatt, gefühlsgetränkt, herzensoffen. All das, was nicht als deutsch gilt. Die Deutschen haben sich neu erfunden bei diesem Fußball-Fest. Vielleicht haben sie sich sogar gefunden, für einen Moment. Patriotismus, Nationalstolz? "If they can get you asking the wrong questions, they don't have to worry about answers", hat der amerikanische Schriftsteller Thomas Pynchon in seinem Regelwerk für Paranoiker notiert. Was, bezogen auf uns, so viel heißt wie: Wenn ihr euch auf diese Fragen einlasst, habt ihr schon verloren. Fähnchen und Hymne, damit soll nichts demonstriert werden, jedenfalls nicht für oder gegen jemanden, damit spielen und feiern die Deutschen. So wie andere mit ihren Farben und Gesängen spielen und feiern. Wann hatten wir das je? So unaufgeregt, so unorganisiert, so einladend. Das ganze Land eine einzige Go-Area.
Zweimal seit der deutschen Katastrophe vor sieben Jahrzehnten haben wir das versucht. 1972, bei der Olympiade in München, waren wir fast schon so weit, ganz undeutsch und ungemein sympathisch - bis der Schwarze September die israelische Olympiamannschaft vernichtete und uns zurückwarf in die eigene Vernichtungsgeschichte. 1989, als die Mauer zerbrach und die Deutschen ihr Glück nicht zu fassen vermochten - aber darüber erschraken und das Glück wegwarfen, damit es keine falschen Blüten treibe. Deutsche Blüten. Jedenfalls solche, die sie dafür hielten.
Die nach 1960 Geborenen haben den Prozess begonnen, die nach 1970 Geborenen vorangetrieben, die nach 1980 Geborenen vollendet - jetzt
Fährt uns nicht die Gewalt von irgendwo her noch in dieses Fest und zerstört den Sommertraum, dann wird der etwas hinterlassen, das unauslöschlich ist. Das Erlebnis, dass die Deutschen normal geworden sind. Normal emotional, normal selbstbewusst, normal gelassen. So normal, dass sie das Wort normal auszusprechen wagen, das unlängst noch als unnormal galt, jedem gehörend, bloß nicht den Deutschen, weil damit Falsches gemeint sein könnte. Der Sprung der Generationen hat die deutsche Geschichte historisiert. Sie ist angenommen, sie ist verstanden, sie verpflichtet. Aber sie ist Geschichte. Sie lähmt die Gegenwart nicht mehr. Die nach 1960 Geborenen haben diesen Prozess begonnen, die nach 1970 Geborenen haben ihn vorangetrieben, die nach 1980 Geborenen haben ihn vollendet. Jetzt. Für sie ist selbstverständlich, was wir auf den Straßen erleben.
"Der kurze Sommer der Anarchie", heißt ein Buch von Hans Magnus Enzensberger. Es meint den spanischen Bürgerkrieg. Der Titel trifft, was wir in diesen Tagen fühlen. Wir erleben den ersten wunderbaren Sommer deutscher Anarchie.