Der Blick in die Zukunft erklärt die Gegenwart. Zukunft heißt für die Sozialdemokraten: Alles hat sich der Verteidigung der bedrohten Festung Nordrhein-Westfalen unterzuordnen. Kurs von Kanzler und Koalition, Zuschnitt und Rollenspiel der Führung, Sprache und Symbolik der Partei. Für die Gegenwart bedeutet das eine rasante Korrektur des Profils. Harte Sozialreformen sind abgesagt; Franz Müntefering salbt die Seele von Partei und Gewerkschaften, Gerhard Schröder sucht Glanz in der Außenpolitik; rhetorisch rückt die SPD nach links, symbolisch inszeniert sie sanften Klassenkampf und antikapitalistischen Patriotismus.
Mit anderen Worten: Die Sanierungspolitik der Agenda 2010 ist gestoppt, zur Agenda 2003 gewendet, das Ende der Zumutungen verkündet. Partei und Regierung werden re-sozialdemokratisiert. Farbenwechsel: von kühlem Reform-Blau zu warmem Das-Gröbste-ist-geschafft-Rosa. Entspannt euch, Bürger! Und ihr werdet erkennen: Wir haben recht getan, nun reifen neue Früchte am beschnittenen Baum. Die anderen würden brutaler stutzen.
Rückgewinnung enttäuschter Wähler
Wahltaktisch heißt das: über Stabilisierung zur Mobilisierung, zur Rückgewinnung enttäuschter Stammwähler. Denn die sind ja nicht etwa in Scharen zur Union übergelaufen, sie sind in die Enthaltung geflüchtet. Kehrten sie zurück, zögernd zwar, aber immerhin, könnte sich die SPD wieder über 30 Prozent berappeln und die Union stiege ab im 40-Prozent-Turm.
Nordrhein-Westfalen ist das entscheidende Versuchsfeld: Im September werden dort neue Kommunalparlamente gewählt, im Mai kommenden Jahres der Landtag. Verlöre die SPD nach 39 Jahren die Macht an Rhein und Ruhr, Ministerpräsident Peer Steinbrück hat es unumwunden ausgesprochen, würde das "weitreichende Erschütterungen für die Regierungsfähigkeit der SPD auf Bundesebene auslösen". Schröder wäre am Ende.
Also gilt es, schon bei der Kommunalwahl zu punkten. Ein Sieg ist ausgeschlossen, ein Erfolg keineswegs: 50,3 Prozent hat die CDU 1999 geholt, nach Oskar Lafontaines Abgang die SPD nur 33,9. Die Latte liegt mithin hoch für die Union; Jürgen Rüttgers ist ein Spitzenkandidat ohne Ellenbogen. Legte die SPD nur wenige Prozente zu, könnte sie das als Trendwende feiern - für die NRW-Wahl 2005 wie die Bundestagswahl 2006.
Die dramatische Rötung der Polemik
Doch dafür müssen die Traditionswähler aus dem Schmollwinkel gelockt werden - und dem dienen alle strategischen Operationen dieser Wochen. Der Wechsel im Parteivorsitz zu "Münte", dem Altkämpen aus dem nordrhein-westfälischen Sauerland. Der Parteitag mit Bergmannschor, Steiger-Hymne, roter Rose vor "Münte" und roten Schlipsen an Vorstandshälsen. Die Kalmierungsgespräche mit den bockig fordernden Gewerkschaften. Und: Gegen "unpatriotische" respektive "vaterlandslose" Unternehmer, die Jobs ins Ausland schieben (Gerhard Schröder und Klaus Uwe Benneter); für die "Sozialbindung des Eigentums", "Moral und Anstand" in den Vorstandsetagen, wo "Pensionsansprüche und Abfindungen in Millionenhöhe" verteilt werden (Schröder); gegen "schlicht obszönen", "brutalen Egoismus" von Managern, die auch noch Lohnverzicht propagieren (Wolfgang Thierse); gegen "ungezügelten Wirtschaftsliberalismus" und die "skandalöse Benachteiligung von Kindern aus unterprivilegierten Schichten" (Schröder). Elite-Unis? Keine Silbe mehr davon. Massenbildung ist wieder en vogue.

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Kanzler Gerhard Wolke wird sich in der Außenpolitik abregnen
In der Regierungserklärung des Kanzlers gerann der rote Lack der Rhetorik zu konkreter Politik. Drei Verbeugungen vor den Gewerkschaften: Ausbildungsplatzabgabe, Garantie von Mitbestimmung und Tarifautonomie. Noch erhellender aber war, worüber Schröder nicht sprach: Reformen bei Steuern, Pflege- und Krankenversicherung. Der Begriff Reform soll ja wieder "einen guten Klang" bekommen. Innovation, Bildung, Forschung - tut allen wohl und keinem weh. Mit uns zieht die neue Zeit.
Und Gerhard Wolke regnet sich in der Außenpolitik ab. Verlangt einen Sitz im Weltsicherheitsrat, feiert seine Einladung zu den 60-Jahr-Feiern der alliierten Landung in der Normandie und des Warschauer Aufstands. Flieht die Fummelei an Kleinteiligem, repariert als Meister des Machtworts nur das, was sein Hausklempner Frank-Walter Steinmeier an Kabinetts-Havarien nicht zu beseitigen vermag. Erst kommt das Land, dann die Partei, deklamiert Schröder gern. Seit neuestem wird der Spruch rückwärts gedacht: Erst kommt die Partei ...