Zwischenruf Die Stunde der Mutigen

Agenda 2010? Vergessen Sie's! Es kommt alles noch viel schlimmer, bevor die Einsicht reift: Nur eine große Koalition kann das Land von Grund auf sanieren. Aus stern Nr. 23/2003

Diese Regierung ist fertig. Das ist weder hämisch noch aggressiv gemeint, sondern kühlen Blutes analysiert. Wenn wir uns nicht mit der Auszehrung des Kabinetts Schröder aufhalten, den wie Hühnerfutter ausgestreuten Rücktrittsdrohungen (oder sind es inzwischen Angebote?) des Kanzlers, sondern seine objektiven Möglichkeiten wägen, so stellen wir rasch fest: Was das Kabinett bewegt, entspricht nicht den Notwendigkeiten - und was notwendig wäre, vermag es nicht zu bewegen. Vergessen Sie getrost die Agenda 2010, sie ist nur ein Brett über parteitaktischem Morast zu einer ganz anderen, größeren Baustelle.

Die Weitsichtigen in allen politischen Lagern wissen längst: Es naht die Stunde einer großen Koalition, die sich die Sanierung Deutschlands binnen zwei Jahren zum Ziel setzt. Bis die allgemeine Einsicht in das Projekt herangereift ist, muss freilich alles noch viel schlimmer kommen. Sofern die Regierung Schröder nicht plötzlich, wie vom Blitz gefällt, zusammenbricht, werden wir dieses Jahr noch verlieren. Und viele Menschen ihre Arbeit.

Ein Sommer nervenaufreibender Winkelzüge

Wir werden einen Sommer nervenaufreibender Winkelzüge erleben - denn die Union wird versuchen, Rot-Grün durch Blockade im Bundesrat ihre eigene Agenda aufzuzwingen; darauf folgt ein Herbst kollabierender Staatsfinanzen - denn im November wird die nächste Steuerschätzung den nächsten Schock auslösen; dann schliddern wir in den Winter von fünf Millionen Arbeitslosen und weiter wuchernden Sozialbeiträgen - denn mit vermurksten Reformen ist dagegen nichts auszurichten. Dann - endlich - werden die Illusionen, die Verharmlosungen und die Lügen platzen wie Seifenblasen im Sturm. Dann wird sich erweisen, dass "Hartz" und "Agenda" nur Täuschung und Selbsttäuschung waren. Dann steht die Politik, soll sich der rasende Vertrauensverlust nicht zur Demokratiekrise auswachsen, vor dem Offenbarungseid.

1,252 Billionen Euro Schulden - Deutschland geht den Weg Argentiniens

Entkommen ausgeschlossen. Denn ohne Grundsanierung des Landes kommt die Wirtschaft nicht auf die Beine: Der Konsum könnte nur mit Steuersenkungen wieder Tritt fassen (aber der Pleitestaat hat sich selbst matt gesetzt), den Export würgt der starke Euro. Überhaupt: der Euro. Er hat dem bleichen Sanierungsfall Deutschland die letzte Schminke vom Gesicht gewischt: Schamlose Preiszockerei kippte bei seiner Einführung zunächst den Konsum, nun treiben überhöhte Euro-Zinsen den Kurs zum Dollar, drosseln Export wie Investitionen. Flexible D-Mark-Wechselkurse als Stoßdämpfer für eine durchgerüttelte Wirtschaft gibt es ja nicht mehr.

Durchgerüttelt? Deutschland schlingert bergab: Die Schulden des Bundes sind seit 1991 von 300 auf nun fast 760 Milliarden Euro gewuchert (der Etat 2003 liegt nur bei 248 Milliarden); die öffentliche Hand stand Ende 2002 mit 1,252 Billionen Euro in der Kreide. 1 252 000 000 000! Wer könnte die jemals zurückzahlen? Wir trudeln in argentinische Verhältnisse. Wollten die Gläubiger ihre Staatspapiere zur selben Zeit einlösen, bräche dieser Staat zusammen. Argentinien stand in solcher Lage am Rande des Bürgerkriegs.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Die Verhältnisse erzwingen die große Koalition

Panikmache? Keineswegs. Die Weitsichtigen in der Politik sehen die Lage exakt so wie beschrieben. Und sie wissen: Die Verhältnisse erzwingen die große Koalition, nicht die Parteien. Denn die Krise ist nur zu packen, wenn alle Sanierungsaufgaben rasch und gleichzeitig angepackt werden. Senkung und Vereinfachung der Steuern (für den Konsum), Entlastung von Renten- und Gesundheitssystem (durch mehr Eigenverantwortung), Flexibilisierung von Arbeitsmarkt und Tarifsystem (betrieblich angepasste Modelle statt starrer Flächentarifverträge), Kürzung der atemberaubend angewachsenen Pensionsansprüche der Beamtenschaft (die den Staat vollends zu ruinieren drohen), radikale Entbürokratisierung (gegen die deutsche Sklerose), Staatsreform durch Entflechtung von Bundestag und Bundesrat (um die parteipolitische Blockade zu brechen).

Das alles geht nur im Bündnis der beiden großen Volksparteien. Denn die Lösungen müssen historischen Bestand haben - und sie erfordern Zweidrittelmehrheiten zur Änderung des Grundgesetzes. Die Mutigsten und Klarsten gehören in dieses Kabinett zur Sanierung Deutschlands: Wolfgang Clement, Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel, Edmund Stoiber, Roland Koch und Friedrich Merz sind Namen, über die besonders zu reden sein wird. Das Land kommt nun mal vor dem Ländle. Und dieses Land hat die Nase voll vom geschwätzigen System organisierter Verantwortungslosigkeit.

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Hans-Ulrich Jörges