Zwischenruf Lest Marx, Genossen!

Deutschlands Universitäten schliddern in die Katastrophe - doch die SPD sperrt sich gegen Studiengebühren. Der Klassiker der Linken war klüger. Aus stern Nr. 49/2003

Karl Marx hatte Recht. "Wenn in einigen Staaten ? auch ,höhere" Unterrichtsanstalten ,unentgeltlich" sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel bestreiten", schrieb er 1875 in seiner "Kritik des Gothaer Programms" der Sozialdemokratie. Man sollte die vergilbte Schwarte heute der Linken - oder was von ihr übrig geblieben ist - um die Ohren schlagen, um sie zur Besinnung zu bringen. Denn mit Inbrunst und Flammenschwert verteidigt sie das kostenlose Studium für die besseren Stände.

Auch wenn Deutschlands Hochschulen noch so dramatisch verrotten. Auch wenn das Land seine wissenschaftliche und damit auch seine wirtschaftliche Zukunft auffrisst. Auch wenn die besseren Stände ihre Kinder immer öfter zum teuren Studium ins Ausland schicken oder an gebührenpflichtige Privatuniversitäten im Lande, um dem Elend der staatlichen Hochschulen zu entfliehen. Über die Qualität von Bildung wird zunächst unsichtbar abgestimmt - mit den Füßen. Viel später erst messbar an der Wahlurne - wenn die Katastrophe einer kopf- und ideenlosen Ökonomie auch die niederen Stände packt. Und sich zur dauerhaften Krise eines ganzen Landes auswächst.

Es ist ein Grausen

Diese Katastrophe ist programmiert. Denn der Staat ist pleite. Und allen volltönenden Politparolen zum Trotz wird bei Bildung und Wissenschaften gekürzt und ausgeholzt, dass es ein Grauen ist. In diesem Herbst etwa hat die Bundesregierung den Forschungs- und Bildungsetat um 155 Millionen Euro gekappt, für 2004 wurden noch mal 84 Millionen gestrichen. In den Ländern sieht es nicht weniger bestürzend aus. Das Wüten des Rotstifts ist in der rot-rot regierten Konkurs-Hauptstadt exemplarisch zu beobachten. Die drei Berliner Hochschulen, die gar schon unbezahlte Lehrbeauftragte ausbeuten, sollen pro Jahr 75 Millionen Euro sparen: An der Freien und der Technischen Universität stehen je 80 Professuren auf der Kippe, an der Humboldt-Universität 90.

Ganzen Fachbereichen droht der Exitus. Ein Fünftel ihrer Kapazität soll die Humboldt-Uni abschmelzen, an der TU werden Maschinenbau, Physik und Elektrotechnik abgewickelt. "Man muss doch schon froh sein, wenn einem nur ein Arm abgehackt wird und nicht beide", sagt FU-Präsident Dieter Lenzen. Von insgesamt 135000 Studienplätzen sind in Berlin nur 85000 finanziert, Tausende sollen noch gestrichen werden. Wer an der FU Politik studieren möchte, braucht einen Notenschnitt von 1,7. Seit einer Woche wird an allen drei Unis gestreikt. Wie schon in Bayern und Hessen.

Studiengebühren sind des Teufels

Studiengebühren aber sind für die SPD noch immer des Teufels, auch wenn unter jüngeren Funktionären wie Sigmar Gabriel, Christoph Matschie und Ute Vogt die Einsicht in ihre Unumgänglichkeit wächst. Die Bundesregierung hat Gebühren vergangenes Jahr im Hochschulrahmengesetz verboten; dagegen klagen sechs unionsregierte Länder vorm Verfassungsgericht. Doch selbst Not leidende Linke mauern: Die Berliner Politikprofessoren Peter Grottian, Wolf-Dieter Narr und Fritz Vilmar, Führer des Streiks, rufen lieber nach einer "kommunalen Ein-kommensteuer für die Wohlhabenden".

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Jeder siebte Student, der hier promoviert, wandert in die USA aus

Dabei ist gerade die Studiengebühr, von der nur Kinder von Niedrigverdienern ausgenommen sind, ein explizit linkes Projekt. Warum sollen Malocher durch Steuern die Ausbildung ihrer künftigen Bosse finanzieren, wo sie doch die eigene Berufsausbildung selbst bezahlen müssen... Schlagt nach bei Charly Marx, Genossen! Wann verschmelzen schon mal "linke" Gerechtigkeit und kapitalistische Rationalität in einer Idee? Studiengebühren, in Höhe wie Verwendung den Unis überlassen (und nicht erst nach dem Studium kassiert), würden die Hochschulen dramatisch verändern.

Das Ende der kostenlosen Zweitklassigkeit

Zum Besseren: Erstmals würden Unis um Studenten wetteifern, Professoren an Leistung gemessen und Studenten den Wert von Bildung begreifen. Es wäre das Ende jener kostenlosen Zweitklassigkeit, die einen verheerenden "Brain Drain", Wissenskapitalflucht der akademischen Eliten, zur Folge hat. Jeder siebte Student, der hierzulande promoviert, wandert in die USA aus. 20000 deutsche Nachwuchsforscher arbeiten dort schon - nach Chinesen und Japanern die größte Ausländergruppe.

"Ich werde bestimmt nicht diejenige Bildungsministerin sein, die in Deutschland Gebühren fürs Erststudium möglich macht", trotzt Bildungsministerin Edelgard Bulmahn. Man sollte sie beim Wort nehmen. Und feuern.

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Hans-Ulrich Jörges