Zwischenruf Politik der kleinen Münze

Eine große Koalition, von der SPD inbrünstig herbeigesehnt, wäre heute kein Segen, sondern ein Verhängnis für das Land - ein Bündnis der Schwachen. Aus stern Nr. 33/2005

Große Koalitionen sind in zwei gänzlich verschiedenen Formen denkbar, die so wenig gemein haben wie Äpfel und Erdäpfel. Sie sind Bündnisse der Stärke oder der Schwäche. Sie vereinen Eliten oder letzte Aufgebote. Sie addieren Ideen und Energien oder Ratlosigkeit und Erschöpfung. Sie schlagen Brücken zwischen Gegensätzen, oder sie planieren Einerlei. Sie schaffen den historischen Sprung oder treten auf der Stelle. Sie werden gewagt, um alles möglich zu machen, oder sie werden hingenommen, weil nichts mehr geht. Sie kommen zustande, wenn die einen die anderen mit strategischem Weitblick suchen oder wenn sich beide in Ausweglosigkeit fügen. Sie sind Ausdruck von Mut oder von Verzweiflung. Sie leuchten oder sie glimmen. Sie atmen oder sie hecheln. Sie reißen mit oder sie schläfern ein. Sie brechen oder sie bauen Blockaden. Sie sind, mit einem Wort, der große Wurf oder die kleine Münze.

In Deutschland wird heute die kleine Münze befingert. Den großen Wurf wollte, als er noch möglich war, niemand riskieren. Als die SPD noch entschlossen und geschlossen war, als Gerhard Schröder noch für Reformen kämpfte statt für den eigenen Nachruhm. Als sich Heuschrecken noch durch afrikanische Landschaften fraßen statt durch sozialdemokratische Programmpapiere. Als der Kanzler noch die Chance hatte, die Avantgarde der Union zu gewinnen, statt darauf zu setzen, seine Nachhut einer nicht minder verwirrten Truppe zuzuführen, deren Kommandantin vom Offizierscorps allein gelassen wird.

In der Vergangenheit habe ich wiederholt für die große Koalition gestritten, weil ich Substanzgewinn, Wucht und Tempo für die Veränderung des in Machtkartellen erstarrten Landes erhoffte.

Heute graut mir davor, dass die einen den anderen ausgezehrt in die Arme sinken. Damals versprach eine große Koalition Wahrheit und Klarheit, heute verspricht sie Vernebelung und Verwirrung. Sie dient weder dem Land noch den Parteien. Sie bedroht beide.

Denn die Linkspartei verändert alles. Ihr Erfolg stellt die SPD vor die Wahl zwischen einem vermeintlich kurzen, kräfteschonenden und einem langen, unüberschaubar schwierigen Weg. Die Rettung in ein Bündnis mit der Union erscheint als Triumph der Reformer über die mächtig erstarkte Linke, als letzter Dienst Schröders an seinen Leuten, als Garantie dafür, dass der Richtungskampf in der Sozialdemokratie erstickt wird, bevor er überhaupt aufflackern kann. Dass Clement, Steinbrück und Eichel unverhohlen dafür werben, kann nicht wundern. Aber welche Selbsttäuschung! SPD-Minister in einem Kabinett Merkel versprächen weder Ruhe noch reformerische Stetigkeit, denn Lafontaine und Gysi im Bundestag wären Füchse im Hühnerstall der Sozialdemokratie, würden deren Linke oppositionell aufscheuchen und ihre Anhängerschaft wegfressen. Jede Landtagswahl mit fortschreitender Verankerung der Linkspartei im Westen verhieße Panik und Instabilität in Berlin. Und die SPD drohte dauerhaft als 25-Prozent-Partei eingekapselt zu werden, Juniorpartner der CDU, ohne überzeugende Bündnisalternative. Denn unter solchen Vorzeichen müssten auch die Grünen die Wende zu den Schwarzen wagen, um wieder regierungsfähig zu werden.

Der lange Weg heißt Debatte, Selbstfindung und Erneuerung der SPD in der Opposition. Mit dem klaren strategischen Ziel, SPD und Linkspartei auf Sicht historisch zu einer großen Volkspartei der Linken zu vereinen.

"Jede Landtagswahl mit fortschreitender Verankerung der Linkspartei im Westen verhieße Panik und Instabilität in Berlin"

Hier verläuft die einzige bislang erkennbare Bruchlinie zwischen Lafontaine und Gysi: Der Saarländer will die Einheit im Schoße der SPD möglichst rasch, noch von ihm vollbracht, der Berliner zögert, seine PDS mit einem Hoppla an die historisch garstige Mutter auszuliefern. Klaus Wowereit, der Berlin mit der PDS regiert und Schröder mit rot-rot-grünen Koalitionsfantasien die Stirn bietet, hat die Perspektive erkannt - und gründet seine persönliche Karriere darauf. Womöglich träumt er schon von Parteivorsitz oder gar Kanzlerschaft.

Schröder hat dem wenig entgegenzusetzen. Die Erneuerung der SPD in seinem Sinne, auf dem modernen Weg Tony Blairs, hat er versäumt. Jetzt hinterlässt er eine rechts wie links blutende Partei - wenn es nach ihm ginge: als Pflegefall der Union. Das Land, das auf Führung und Erlösung wartet, kann damit nicht gewinnen. 1966, als die erste, die starke große Koalition verhandelt wurde, saßen für die SPD Willy Brandt, Helmut Schmidt, Herbert Wehner, Karl Schiller und Alex Möller am Tisch. Diesmal wären es, nach Schröder, wohl Franz Müntefering, Otto Schily, Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel und Kurt Beck. Das sagt alles.

Nicht die Linkspartei, wie kurzschlüssig gefolgert wird, entscheidet indes über den Zwang zur großen Koalition. Die Union selbst hat es in der Hand, ob sie so endet. Deprimiert, ausgezehrt und mit zweitklassigem Aufgebot wie die SPD. Sie hätte es dann nicht anders verdient. Das Land aber wohl.

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Hans-Ulrich Jörges