Haben Sie sich schon mal mit dem Gedanken befasst, dass Friedrich Merz tatsächlich der nächste Bundeskanzler sein könnte? Man hat das doch eigentlich nie so richtig ernst genommen. Nach den Jahren mit Angela Merkel mussten wir uns erst einmal an den nächsten Kanzler gewöhnen, da denkt man nicht gleich an den übernächsten. Auch wäre Olaf Scholz nach Kurt Georg Kiesinger erst der zweite Regierungschef, der an einer Wiederwahl scheitert. Kann das sein?
Merz muss ja zunächst mal Kanzlerkandidat werden. Selbst in der Union gibt es große Zweifel an ihm: ein Mann, der sich so viele Jahre aus der Politik verdrückt hat? Der noch nie regiert hat? Der um die 70 wäre, wenn er 2025 ins Kanzleramt einzöge? Ein Mann, der wie ein Phantom aus einer längst vergangenen Zeit erscheint, eine Projektionsfigur für frustrierte Konservative? Ein CDU-Vorsitzender, der nicht gerade als Sympathieträger wirkt? Von dem es heißt, bei Wählerinnen komme er nicht gut an, und dessen emotionale Zündschnur als ziemlich kurz gilt? Dieser Mann soll die nächste Wahl gewinnen, wann immer sie stattfindet? Jetzt mal halblang.
Friedrich Merz hat mich sechs Flaschen Wein gekostet, als ein früherer Kollege 2018 auf seine Rückkehr in die Politik wettete. Ich hielt das für ausgeschlossen. Aber der Kollege Stefan Braun hatte eine gute Nase. Wahrscheinlich, weil er früher auch mal beim stern war. Seit diesem Fiasko bin ich mit Prognosen gegen Merz vorsichtig.
Merz hat den unbedingten Willen, den man braucht, um Kanzler zu werden. Er hat sich durch drei Vorsitzenden-Wahlen in der CDU gequält, zwei Niederlagen weggesteckt, Demütigungen ertragen, nie aufgegeben. Glauben Sie wirklich, er hat das nur ausgehalten, um dann einem anderen die Kanzlerkandidatur zu überlassen? Merz hat als CDU-Chef mit den Worten über kleine Paschas provoziert, sich im Umgang mit der AfD verheddert, Unsinn über Flüchtlinge in Zahnarztpraxen erzählt und sich jede Menge Kritik eingefangen, auch aus den eigenen Reihen. Und? Hat’s ihm geschadet?
Die Regierung hat kein Vertrauen in sich selbst
Die Union steht in Umfragen um die 30 Prozent. Das ist nicht herausragend, aber auch nicht schlecht, immerhin deutlich über dem letzten Wahlergebnis. Für Olaf Scholz und seine Regierung gilt das Gegenteil. Der Kanzler und seine Koalition stehen kurz vor dem zweiten Jahrestag ihres Bestehens in den Umfragen verheerend da, zudem ohne vollständigen Haushalt für 2023 und ganz ohne Haushalt für 2024. Die Regierung hat weder großes Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern, noch hat sie Vertrauen in sich selbst. Wenn die Union die Wahl gewinnt, dann auch, weil die Konkurrenz so schwach ist. Aber das kennt man ja von 2021, da war es nur andersrum.
Das Urteil des Verfassungsgerichts zur Schuldenbremse könnte jetzt die entscheidende Bewährungsprobe für Merz werden. Seine Fraktion hat das Verfahren in Karlsruhe angestrengt und gewonnen. Die Versuchung, das Siechtum der Regierung so lange wie möglich zu verlängern, ist groß für einen Oppositionsführer.
Aber an den Folgen des Urteils haben auch Länder unter Führung der CDU zu knapsen. Die ersten Ministerpräsidenten liebäugeln schon mit einer Aufweichung der Schuldenbremse, wie Merz sie nicht will. Und vielleicht liebäugelt manch ein ambitionierter Ministerpräsident gleich auch mit der Chance, den CDU-Chef in eine Klemme zu zwingen, aus der er nicht herauskommt.
Und wenn doch? Wenn Merz auch diese Zwangslage unbeschadet übersteht?
Ich wette nicht mehr gegen ihn.