Wenn William Shakespeare sich heute erkundigen würde, ob es hierzulande moderne Inszenierungen seiner Stücke gibt – wohin würde man ihn schicken? In eine mitteldeutsche Hügellandschaft, wo Drama, Machtkampf, Intrige, Verrat und Ruchlosigkeit in der Politik seit Jahrzehnten so ausgeprägt sind, dass es nebelverhangener Wälder oder ausgegrabener Schädel gar nicht bedarf, um einen Nervenkitzel zu erzeugen. Diese Region heißt Hessen, das Publikum wird dort alle paar Jahre mit einem neuen Schauspiel überrascht. Und die Konsequenzen reichen stets weit über das Land hinaus.
Es begann mit der Widerspenstigen Zähmung: Holger Börner, der Gegner der Startbahn West einst am liebsten mit einer Dachlatte vermöbelt hätte, war 1985 der erste Ministerpräsident, der mit den Grünen regierte. Ein Vorbild für Gerhard Schröders Koalition im Bund. 1999 kam dann Roland Koch, der sich nicht schämte, seinem Landtagswahlkampf mit einer Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft Auftrieb zu verschaffen. Damals soll ein angestachelter Bürger gefragt haben: "Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?" Die Quellenlage für das Zitat ist wacklig, sicher ist: Von Shakespeare stammt es nicht. Koch gewann, was die neue rot-grüne Bundesregierung gleich mal die Mehrheit im Bundesrat kostete.
Es folgte das Epos um Andrea Ypsilanti, ein gebrochenes Wahlversprechen, Verrat unter Genossen und politischer Absturz. Der Sturm in Hessen war auch der Anfang vom politischen Ende des SPD-Chefs Kurt Beck. 2013 stachen dann die Grünen die SPD als Koalitionspartner der CDU aus, Volker Bouffier machte Tarek Al-Wazir zum Vize-Ministerpräsidenten, was so überraschend war, als habe Othello doch seinen Widersacher Jago zum Leutnant befördert.
Die Grünen sind natürlich sauer
In der nächsten Landtagswahl 2018 wurde die Koalition bestätigt, aber mit einem schlechten CDU-Ergebnis, das wieder bis nach Berlin wirkte. Angela Merkel konnte gar nicht schnell genug ihre Entscheidung verkünden, auf den Parteivorsitz zu verzichten, aber noch bis 2021 Kanzlerin zu bleiben. Das war eine Schnapsidee, von der sich die CDU nicht mehr erholte, weshalb – mal ganz verkürzt – heute Olaf Scholz im Kanzleramt sitzt und schon nach der Hälfte der Legislaturperiode vor der berühmten Frage steht: Na, Sie wissen schon.
Nach der jüngsten hessischen Landtagswahl hat nun Ministerpräsident Boris Rhein wiederum Tarek Al-Wazir den Stuhl vor die Tür gesetzt, weil er künftig lieber eine Koalition mit der SPD führen will. Die Grünen sind natürlich sauer, doch bleibt ihnen nicht mehr, als Rhein die Warnung des Herzogs von Albany hinterherzurufen: "Oft büßt das Gute ein, wer Besseres sucht."
Nun wird natürlich allenthalben gemunkelt und orakelt, welche Konsequenzen diese Entscheidung in Berlin haben wird. Ganz gewiss würde Friedrich Merz zumindest jener der drei Hexen gern begegnen, die Macbeth korrekt prophezeite, er werde bald König sein. Wobei wir Merz unbedingt zugute-halten wollen, dass er und seine Frau sich beim Sturz von King Olaf ausschließlich demokratischer Methoden bedienen würden.
Schwarz-Rot also als Vorbild für den Bund, vorerst mit einem Kanzler Scholz, nach der Wahl mit einem Kanzler Merz? Der CDU-Chef bestreitet, dass Hessen eine Vorentscheidung bedeute. Aber dass er die Grünen nicht mag, hat er im April klargemacht, als er über ihre Energiepolitik schrieb: "Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode." Und das ist von? Genau.
Nico Fried freut sich, von Ihnen zu hören. Schicken Sie ihm eine E-Mail an nico.fried@stern.de