Fried – Blick aus Berlin Würde Deutschland für Israel in den Krieg ziehen? Was die geheimnisvollen Worte von Olaf Scholz wirklich bedeuten

Olaf Scholz schaut ernst. Er steht vor einer israelischen Fahne bei seinem Besuch in Tel Aviv
Olaf Scholz habe den Begriff der Staatsräson nicht nur wieder aufgegriffen, sondern seine Definition auch konkretisiert, schreibt stern-Kolumnist Nico Fried 
© Maya Alleruzzo / Picture Alliance / AP
Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson – was heißt das eigentlich? Olaf Scholz scheint jedenfalls bereit zu sein, sehr weit zu gehen.

Ein Wort geht um in Deutschland, seit die Hamas Israel brutal überfallen hat: Staatsräson. Angela Merkel hat den Begriff eingeführt, 2007 in einer Rede vor den Vereinten Nationen, sie betonte ihn noch einmal, als sie 2008 vor dem israelischen Parlament sprach. Deutschland habe eine besondere Verantwortung für die Existenz Israels, dessen Sicherheit sei nicht verhandelbar. So lautete Merkels Bekenntnis, dessen Wesensgehalt sie aber nie ausbuchstabierte. Jetzt erst, nach dem Angriff der Hamas, hat Merkels Nachfolger Olaf Scholz die Staatsräson fast unbemerkt konkretisiert. Und zwar durch das, was er dazu gesagt hat – und das, was er nicht sagt.

Der Begriff der Staatsräson ist eigentlich irreführend. Ideengeschichtlich geht es dabei darum, "die Machtinteressen des eigenen Staates zu verabsolutieren und alles andere nur zum Mittel zu diesem Zweck zu degradieren", wie es der Historiker und Publizist Ulrich Speck einmal formulierte. Nimmt man Merkel beim Wort, hat sie – gerade umgekehrt – mit Israels Sicherheit als Staatsräson das Wohlergehen eines anderen Staates zur Voraussetzung für die Legitimation des eigenen gemacht.

Die Staatsräson bot der deutschen Nahostpolitik lange ein bequemes Kissen. Sie war das Schlüsselwort dafür, dass Deutschland die aus eigener historischer Schuld abgeleitete Verpflichtung ernst nimmt. Andererseits schien keine Gefahr zu bestehen, dass ihre Bedeutung jemals so ernsthaft getestet werden würde, wie es der damalige Bundespräsident Joachim Gauck während seines Antrittsbesuchs in Israel 2012 umschrieb: Er wolle sich "nicht jedes Szenario ausdenken, welches die Bundeskanzlerin in enorme Schwierigkeiten bringt, ihren Satz, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist, politisch umzusetzen".

Staatsräson ist ein Abwägungsprozess

Gauck mag einen Krieg mit dem Iran vor Augen gehabt haben – und die innenpolitischen Verwerfungen, zum Beispiel im Falle einer israelischen Bitte um militärische Unterstützung. 2006 hatte schon die Debatte über die Entsendung der deutschen Marine vor die libanesische Küste, wo die Bundeswehr auch auf Wunsch Israels den Waffenschmuggel der Hisbollah unterbinden sollte, gezeigt, dass Geschichte von Befürwortern wie Gegnern als respektables Argument herangezogen werden kann. Während Merkel mit der historischen Dimension für den Einsatz warb, lehnte ihn die FDP mit Merkels späterem Außenminister Guido Westerwelle gerade wegen der deutschen Vergangenheit mehrheitlich ab. Selbst die Staatsräson ist also immer ein Abwägungsprozess – und steht im äußersten Fall unter Parlamentsvorbehalt.

Umso bemerkenswerter ist, dass Olaf Scholz nun nicht nur den Begriff der Staatsräson wieder aufgegriffen, sondern seine Definition auch konkretisiert hat: Er habe, so der Kanzler in seiner Regierungserklärung zum Angriff der Hamas, Premierminister Benjamin Netanyahu gebeten, ihm jeglichen Unterstützungsbedarf sofort mitzuteilen. Diesen werde man dann unverzüglich prüfen "und auch gewähren". Für Scholz ist die Staatsräson mithin nur ein anderes Wort für eine andere alte Bekannte unter den außenpolitischen Begrifflichkeiten: die uneingeschränkte Solidarität.

Noch deutlicher wird Scholz’ Idee von der Staatsräson durch die Parallelen mit dem Krieg in der Ukraine – und deren Grenzen. Denn im Falle der Ukraine gilt für den Kanzler der feste Vorsatz, Deutschland nicht zur Kriegspartei werden zu lassen. Daran richtet sich auch die Waffenhilfe aus. Für Israel hat Scholz eine solche Grenze bislang nicht gezogen.

Erschienen in stern 44/23

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