Fried – Blick aus Berlin Israel hat ein Recht auf Selbstverteidigung. Doch was ist dabei angemessen?

Bei Kämpfen zwischen dem israelischen Militär und der Hamas im Gazastreifen steigt Rauch auf
Israelische Soldaten im Gazastreifen
© Israeli Army / AFP
Die Bundesregierung erwartet, dass Israel in Gaza angemessen vorgeht. Stern-Kolumnist Nico Fried fragt sich, was das heißt.

Am 18. Juli 2014 gab Angela Merkel ihre jährliche Sommerpressekonferenz. Eine Journalistin fragte die Bundeskanzlerin damals nach den Luftangriffen der israelischen Armee auf den Gazastreifen. Auslöser dafür waren die Morde an drei Studenten gewesen, zu denen sich die Hamas später bekannt hatte, sowie Raketenbeschuss auf den Süden Israels. Merkel antwortete: "Man muss ganz klar sagen: Israel hat ein Recht auf Selbstverteidigung." Und sie fügte hinzu: "Das muss natürlich immer angemessen durchgeführt werden."

Angemessen. Ich fand das Wort irritierend. Angemessen, das suggeriert Klarheit, Messbarkeit, als ob man nur einen Meterstab anlegen müsse, um beurteilen zu können, ob ein Militärschlag dem Völkerrecht entspricht. 2014 starben 67 israelische Soldaten und mehr als 2000 Palästinenser. War das angemessen? Blieb damit, noch so ein Begriff, die Verhältnismäßigkeit gewahrt? Merkel hat sich dazu später nicht mehr geäußert.

Ich muss dieser Tage an diese Pressekonferenz denken, wenn ich Bilder aus Gaza sehe und Berichte lese. Von der heutigen Bundesregierung höre ich das Gleiche wie damals von Merkel, nur in anderen Worten: Der Kanzler sagt, er habe "keinen Zweifel", dass Israel das Völkerrecht einhalten werde. Es sei ein demokratisches Land und werde von "sehr humanitären Prinzipien" geleitet. Vizekanzler Robert Habeck spricht in seinem viel gerühmten Video von den "internationalen Standards", an die sich Israel halten müsse. Und Außenministerin Annalena Baerbock mahnt, der Kampf gegen die Hamas müsse "im Einklang mit dem humanitären Recht und mit größtmöglicher Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung in Gaza geführt" werden. Also: angemessen.

Mit all dem im Kopf sitzt man vor dem Fernseher, sieht das Leid in Gaza und fragt sich: Und? Ist das so?

Die Angemessenheit des Krieges

Ich habe darauf für mich eine klare Antwort, aber sie hat zwei Teile. Die Hamas hat diesen Krieg begonnen, mit bestialischen Morden, Vergewaltigungen, Entführungen. Dagegen muss sich Israel wehren. Die Hamas wird mit solchen Angriffen wohl erst aufhören, wenn sie nicht mehr existiert, deshalb hat der Vormarsch Israels auch den präventiven Charakter, den das Völkerrecht für einen solchen Krieg verlangt. Die Hamas hat es in der Hand, dass Israel seine Offensive abschwächt, indem sie die Geiseln freilässt. Das tun die Terroristen aber nicht. Es ist also die Hamas, die diesen Krieg wollte, erst tötete und jetzt ihr eigenes Volk leiden lässt, ja zum Abschuss freigegeben hat.

Trotzdem, und das ist der andere Teil der Antwort, nagt mit jedem neuen Bericht über das Elend in Gaza auch der Zweifel. Ich frage mich, ob die Auslegung des Begriffs von der Verhältnismäßigkeit bei einem Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu nicht auch von seinem persönlichen politischen Überlebenskampf beeinflusst wird – und das nicht unbedingt zum Guten. Oder ich höre, dass selbst Israels wichtigster Verbündeter, die USA, diskutiert, ob 250-Pfund-Bomben in der Bekämpfung der Hamas nicht genauso effektiv wären wie die 1000-Pfund-Bomben, aber weniger zivile Opfer forderten.

Ich kann das nicht beurteilen. Aber so viel scheint mir klar zu sein: Angemessenheit im Krieg ist kein physikalischer Begriff, sondern ein politischer. Und ich würde mir wünschen, dass er auch in der deutschen Politik nicht zur Formel verkommt. Man kann über Angemessenheit diskutieren, auch ohne infrage zu stellen, dass Israel einen gerechtfertigten Krieg führt.

Erschienen in stern 46/2023