Vor ein paar Tagen meldete "Bild": 57 Prozent der Deutschen wollen vorzeitige Neuwahlen. Sie auch? Dann habe ich schlechte Nachrichten: Der Weg ist weit. Und die Probleme, deren Lösung Sie sich eigentlich davon erhoffen, bleiben erst mal liegen.
Neuwahlen sind in Deutschland schnell gefordert, aber mühsam erreichbar. Es gibt nämlich nur ein Nadelöhr, das zu Wahlen vor Ablauf der regulären Legislaturperiode führt. Der Kanzler muss den Abgeordneten die Vertrauensfrage stellen – und zwar in der Absicht, die Abstimmung zu verlieren. Allein dieser Umstand markiert ein merkwürdiges Paradoxon: Ausgerechnet derjenige Politiker, für den am meisten auf dem Spiel steht, ist der Einzige, der den ersten Schritt zu Neuwahlen gehen kann.
Warum sollte Olaf Scholz das tun? Gerhard Schröder machte 2005 geltend, dass er sich nach den jahrelangen Debatten um die Agenda 2010 und Hartz IV nicht mehr auf die dauerhafte Unterstützung seiner Koalition verlassen könne. Schröder lag damals mit allen SPD- und Grünen-Abgeordneten zusammen nur drei Stimmen über der Kanzlermehrheit. Bei jeder wichtigen Abstimmung hätten ihn also nur vier von 304 rot-grünen Abgeordneten zusammen mit der Opposition in die Bredouille bringen können.
Doch heute sieht das anders aus: Die Ampel hat 417 Stimmen, Union, AfD, Linke und Fraktionslose zusammen 319. Die Koalition liegt somit 48 Stimmen über der Kanzlermehrheit von 369. Scholz kann sich einen Stall voller unzufriedener Liberaler oder gedemütigter Grüner leisten. Rechnerisch könnte ihn sogar die Hälfte der FDP-Fraktion stürzen wollen – er hätte immer noch eine Mehrheit.
Wenn die Vernunft siegt, gibt's keine Neuwahlen
Aber natürlich kann es sein, jetzt mal rein theoretisch, dass die Grünen sich in der Migrationspolitik verweigern oder die FDP doch geschlossen einem alten Partei-Slogan verfällt: Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren. (Dass Parteichef Christian Lindner mit diesem Satz schon einmal Reißaus genommen hat, ist übrigens ein wichtiger Grund dafür, dass er es nicht noch einmal tun wird. Aber bitte, wir bewegen uns hier ja nur in einem Gedankenexperiment, weil Sie, liebe Leserinnen und Leser, unbedingt Neuwahlen wollen.) Wenn also Grüne oder FDP in den Sack hauen, ist Olaf Scholz das Vertrauen los. Endlich Neuwahlen!
Von wegen.
Der Kanzler ohne Vertrauen bittet den Bundespräsidenten um die Auflösung des Bundestages. Der muss ihm aber nicht folgen. Er hat 21 Tage Zeit, Gespräche darüber zu führen, ob nicht der bestehende Bundestag mit einer neuen Mehrheit einen Kanzler wählen will. Zum Beispiel Olaf Scholz als Chef einer großen Koalition. Das halten Sie für undenkbar? Ich nicht.
Frank-Walter Steinmeier hat nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen 2017 schon einmal eine Partei überredet, von ihrem zementierten Nein zu einer großen Koalition Abstand zu nehmen. Warum sollte, was Steinmeier damals mit der SPD gelungen ist, nicht auch mit der Union gelingen? Oder will Friedrich Merz die Verantwortung dafür übernehmen, dass Deutschland ohne stabile Regierung durch einen monatelangen Wahlkampf plus Koalitionsverhandlungen torkelt, während drum herum zwei Kriege wüten? Wenn die Vernunft siegt, gibt's keine Neuwahlen.
Ja, es ist kompliziert. Aber es gibt eine einfache Lösung: Die bestehende Koalition reißt sich zusammen und macht ihren Job. Denn ein Leben mit vorzeitigen Neuwahlen ist möglich, aber nicht sinnvoll.