Abt Nikodemus trägt dunkle Kutte und silbernes Kreuz, er sitzt in der neu eröffneten Cafeteria der Dormitio-Abtei. Seit Frühling dieses Jahres steht der Mönch dem deutschsprachigen Kloster vor, das auf dem Berg Zion in Jerusalem thront, nur ein paar Schritte von der Altstadt entfernt, durch die zu jeder Jahreszeit die Pilger ziehen. Nikodemus, 44 Jahre alt, kam als Theologiestudent ins Heilige Land und ging nie wieder fort, inzwischen lebt er hier seit mehr als 20 Jahren und ist zum Gesicht der Christen in Jerusalem geworden, gut vernetzt auch in der jüdischen Zivilgesellschaft. Vor seinem jetzigen Posten kümmerte er sich um die christlichen Gastarbeiter in Israel, oder wie er sagt: "die unsichtbaren Christen" – zumeist Menschen aus den Philippinen, Sri Lanka oder Indien. Nikodemus, daran lässt er keinen Zweifel, liebt Israel, und er sorgt sich um Israel.
Seit Anfang des Jahres demonstrieren jede Woche Zehntausende Demonstranten gegen die geplante Justizreform, längst aber richten sich die Proteste gegen die gesamte nationalreligiöse Regierung von Benjamin Netanjahu. Mit der Reform will die Regierung die sogenannte Angemessenheitsklausel abschaffen, die es dem Obersten Gerichtshof bislang erlaubte, Entscheidungen der Regierung als unangemessen zurückzuweisen. Kritiker sehen in dem Gesetzesvorhaben eine Gefahr für die Demokratie. Am heutigen 12. September berät der Oberste Gerichtshof erstmals über die Abschaffung der Angemessenheitsklausel – also über seine eigene Entmachtung.
Das Land ist gespalten, die Fronten verhärten sich – und Abt Nikodemus, mit seinem Kreuz über der Kutte, merkt das auch persönlich: Immer häufiger, sagt er, werde er angefeindet. Er spricht mit tiefer Stimme und kann herzlich lachen; trotz allem.