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Mitte Dezember rief Antoninas Mann aus dem Krieg an, um sich von ihr zu verabschieden. Er war sich sicher, dass er in den Tod geschickt werde. Sie solle alles tun, ihn nach Hause zu holen. Er weinte. "Ich bin hysterisch geworden", erzählt Antonina, 42, eine gelernte Näherin. Sie spricht über einen Messengerdienst; ihr scheint dieser sicherer zu sein als ein Treffen. Wie ihr Mann heißt, will sie nicht sagen. Sie hat schon genug Ärger. Einmal kam die Polizei zu ihr nach Hause, dann rief ein Mitarbeiter des "Zentrum E" an, einer Polizeiabteilung zur Bekämpfung von Terrorismus.
Seit Oktober 2022 setzt sich Antonina für ihren Mann ein, der vor dem Krieg in Moskau als Fahrer für einen Kurierdienst arbeitete. Damals klingelte ein Bezirkspolizist an der Wohnungstür, ihr Mann öffnete. Antonina telefonierte gerade mit ihm. Der Beamte händigte einen Wehrbescheid aus.
Antonina und ihr Mann hatten den Sinn dieses Krieges nie verstanden, und ihr Mann hatte nicht vor, daran teilzunehmen. Er war damals schon 46 Jahre alt und litt an einem Magengeschwür. "Regen Sie sich nicht auf", sagte man im Wehramt. "Sie kommen in die Reserve." Antonina sagt: "Wir sind gesetzestreue Bürger, wir haben das geglaubt." Jetzt sieht sie das anders. "Wenn du einmal da hineingeraten bist, kommst du nicht wieder raus."

Anfangs war er im Hinterland eingesetzt, musste Panzer reparieren. Doch sein Magen rebellierte, und er kam in ein Militärhospital. Danach rief er an. Er gehöre jetzt zur Sturmbrigade. Die meisten Soldaten in seiner Einheit seien auch verletzt oder krank, berichtete ihr Mann: "Sie wollen uns utilisieren." Das Wort sollte vermutlich nicht so schlimm klingen wie "umbringen". Ein anderer neuer Ausdruck, der "killen" meint, lautet: "vernullen".
In ihrer Wut und Sorge schloss sich Antonina vor einigen Monaten der Bewegung "Weg nach Hause" an. Angehörige von eingezogenen Männern fordern, die Soldaten wieder zu ihren Familien zurückzuschicken. Die meisten von ihnen sind gegen den Krieg. Die russischen Behörden behandeln sie deshalb wie Staatsfeinde. TV-Propagandisten verbreiten, die Aktivistinnen seien Spione, bezahlt vom Westen. Jeden Samstag filmen Dutzende Sicherheitsbeamte, wie die Frauen als Zeichen ihres Protests weiße Mützen tragen und Blumen am "Ewigen Feuer" an der Kremlmauer niederlegen. Als wären sie dort mit Molotowcocktails erschienen! Journalisten werden weggeschleppt. Nichts darf die Totenstille stören, die seit Kriegsbeginn vor zwei Jahren über dem Land liegt.
"Alle haben Angst"
Der Krieg gegen die Ukraine hat auch Russland schlagartig verändert. Selbst die Menschen in der Hauptstadt verstummten bald nach Kriegsbeginn: aus Angst vor Repressionen, auch aus Gleichgültigkeit. Aus dem Gefühl heraus, sowieso nichts ändern zu können. Und weil es einfacher ist, sich anzupassen, als in einem totalitären Staat den eigenen Kopf zu riskieren. "Viele haben überhaupt keine Ahnung, was in der Ukraine los ist", sagt Antonina. "Wir wollen den Leuten klarmachen: Es kann jeden treffen."