Der Krieg in der Ukraine dauert bereits mehr als zwei Jahre – und Präsident Selenskyj muss immer lauter westliche Unterstützung einfordern. Ein Ende des russischen Angriffs scheint unmöglich, nur Friedensverhandlungen könnten Tod und Leid beenden, heißt es immer wieder. Gwendolyn Sasse, wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien, erklärt, warum diese Forderung realitätsfern ist.
Frau Sasse, die Ukraine wird immer wieder aufgefordert, Friedensverhandlungen mit Russland einzuleiten. Zuletzt sprach sich der Papst dafür aus. Wie wahrscheinlich ist es, dass es dazu kommt?
Die Position hat sich in den letzten Monaten nicht verändert: Momentan gibt es keine Grundlage für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen. Aus Russland gibt es keinerlei Signale, dass Interesse an ernsthaften Verhandlungen besteht. In der Ukraine gibt es keinen gesellschaftlichen oder politischen Willen, die durch Russland besetzten Gebiete aufzugeben. Der von Selenskyj im Herbst 2022 präsentierte Friedensplan sieht den vollständigen Abzug russischer Truppen aus dem Staatsgebiet der Ukraine vor. Dieser Plan ist für die Ukraine der Ausgangspunkt für Verhandlungen. Diskussionen über Friedensverhandlungen sind vielerorts spekulativer Natur und reflektieren Wunschdenken von außen als Realitäten in der Ukraine und im Kreml.

Zur Person
Gwendolyn Sasse ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin. Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und Internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Außerdem hält sie die Einstein-Professur für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Wie würden die Verhandlungen initiiert werden?
In einer losen Abfolge von Friedensgipfeln in Kopenhagen, Malta und Saudi-Arabien ist es der Ukraine gelungen, eine wachsende Anzahl von Staaten, u. a. aus dem sogenannten globalen Süden, für den Krieg und seine Folgen zu sensibilisieren. Seit Beginn 2024 spricht Selenskyj von Plänen für eine erste "Friedenskonferenz" in der Schweiz. Dort will die Ukraine mit internationalen Partnern einen Plan ausarbeiten, der dann auf weiteren Konferenzen auch mit der Beteiligung russischer Vertreter diskutiert werden könne.
Wie sähe der weitere Ablauf aus?
Letztendlich müssten sowohl Russland als auch die Ukraine Signale an mögliche Vermittler senden, dass sie zu Sondierungsgesprächen bzw. Verhandlungen bereit sind. Es ist dann wahrscheinlicher, dass auf der Ebene von Diplomaten und Regierungsvertretern gesprochen wird, um Verhandlungen auf Präsidentenebene vorzubereiten. Ein Waffenstillstand und seine Absicherung sind der logische Auftakt zu ernsthaften Verhandlungen.
Diverse internationale Akteure könnten den Ort und Rahmen von Verhandlungen anbieten und mitgestalten, so zum Beispiel die Schweiz, die Türkei oder auch die OSZE.
Was würden die Ukraine und Russland in den Verhandlungen erreichen wollen?
Die Verhandlungspositionen von Russland und der Ukraine werden direkt von der Kriegssituation in einem bestimmten Moment abhängen. Derzeit sind die Positionen unvereinbar: Russland beansprucht die besetzten Gebiete, darunter die Krim, Teile der Regionen Donetsk, Luhansk, Cherson und Saporischschja und fordert eine Neutralität der Ukraine. Die Ukraine will ihr Staatsgebiet wieder vollständig herstellen, den EU- und Nato-Beitritt eigenständig gestalten und fordert internationale Sicherheitsgarantien.
Wie könnten andere geopolitische Akteure wie die USA, die Nato, Deutschland oder die EU vor Beginn wahrscheinlicher Verhandlungen und währenddessen Einfluss nehmen?
Westliche Regierungen, die EU und Nato können durch ihre Unterstützung der Ukraine den Ausgangspunkt für Verhandlungen für die Ukraine maßgeblich mitbeeinflussen. Durch diese Unterstützung ist ihre Rolle als direkte Vermittler zunächst einmal gering. Die Ukraine hat die Schweiz als möglichen Vermittler ins Visier genommen. Auch die Türkei bietet in unregelmäßigen Abständen ihre Beteiligung an.
Was passiert schon jetzt im Hintergrund? Werden bereits Gespräche geführt?
Kriegsführung einschließlich westlicher Waffenlieferungen und Verhandlungen sind kein Widerspruch, auch wenn es in politischen Debatten mitunter so klingt. Unterstützung bei der Kriegsführung kann eine Grundlage für Verhandlungen schaffen. Seit Beginn der vollumfänglichen Invasion im Februar 2022 hat es immer wieder Gespräche gegeben – gleich zu Beginn mehrfach mit zumindest auf ukrainischer Seite hochrangig besetzten Delegationen. Verhandelt wurde u. a. in der Türkei.

Westliche Regierungschefs unterhielten vor und nach dem 24.02.2022 direkte Gespräche mit Putin. Seitdem sind diese Kontakte auf andere diplomatische Kanäle verlegt worden. Das Ziel ist hier, den Moment für Veränderungen nicht zu verpassen, aber ihr Rahmen ist sehr begrenzt. Es hat wiederholt Gespräche über humanitäre Hilfe, Gefangenenaustausch und die Sicherheit des Atomkraftwerks in Saporischschja gegeben, bei denen gewisse Ergebnisse erzielt wurden.
Wie sinnvoll sind Friedensverhandlungen in der aktuellen Kriegslage?
Die meisten Kriege enden mit Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine Nachkriegsordnung. Verhandlungen, die in einen konkreten institutionellen Rahmen der Friedenssicherung münden, sind sinnvoll, aber der Moment, zu dem sie möglich werden und somit auch Aussicht auf Erfolg haben, hängt unmittelbar vom Kriegsgeschehen ab und wird nur in Teilen von außen beeinflusst.
Externe Akteure können vorsondieren, Orte und Formate für die Verhandlungen vorschlagen, aber die Kriegsparteien müssen selbst davon überzeugt sein, dass diese Verhandlungen die beste bzw. einzig mögliche Option darstellen. An diesem Punkt ist Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht – weder in Russland noch in der Ukraine.
Putin sieht sich derzeit in einer Position der Stärke und hat somit keinen Handlungsbedarf in Richtung Frieden. Der Begriff der "Kriegsmüdigkeit" in der Ukraine suggeriert ein falsches Bild. Natürlich sind die Soldaten und Soldatinnen an der Front und die Bevölkerung generell erschöpft. Meinungsumfragen zeigen aber sehr deutlich, dass die rund 20 Prozent, die sich inzwischen Verhandlungen vorstellen können, diese mit der Unsicherheit über die weitere westliche Unterstützung in Verbindung bringen.
Was würde die aktuelle Kriegslage und damit die Möglichkeit auf Friedensverhandlungen verändern können?
Zwei Maßnahmen sind entscheidend: konzentrierte westliche Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung für die Ukraine. Innerhalb eines Jahres könnte der Krieg so an einen Punkt gelangen, wo die Ukraine Territorien zurückgewinnen könnte und Russland erkennt, dass die Kosten eines noch länger anhaltenden Krieges zu hoch sind. Der Weg für Verhandlungen wäre damit frei. Selbst dieses Szenario ist nicht gleichbedeutend mit einer Einigung und einer Umsetzung der Vereinbarungen. Dafür liegen die Vorstellungen der konträren politischen Systeme in der Ukraine und Russland zu weit auseinander.
Ein zweites Szenario wäre eines, in dem nach einer Trump-Wiederwahl die amerikanische Unterstützung für die Ukraine wegbricht und die EU und Nato die Rolle der USA nicht ausgleichen können. Dann könnte die Ukraine verhandeln müssen. Diese Art der Verhandlungen und ihre Ergebnisse hätten wenig Aussicht auf dauerhafte Friedenssicherung.

Mitunter klingt der Vorschlag an, über die Verhandlungen als eine Art Einfrieren einer Grenze analog zur innerdeutschen Grenze nachzudenken. Dieser Vergleich entbehrt jeder Grundlage: Auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze existierte Deutschland fort – in der Ukraine wäre dies nicht der Fall. Bereits jetzt forciert Russland die Russifizierung der besetzten Gebiete. Es geht um die Verdrängung der Ukraine, nicht um ihren Erhalt in einer anderen Form.