Nach dem Fall von Awdijiwka sind die Russen in die Offensive gegangen. Die Ukraine wiederum hat dort und auch bei Robotyne Gegenangriffe angesetzt, mit denen der Gegner aufgehalten und zurückgeworfen werden konnte. Bei Awdijiwka waren die Russen eigentlich schon dabei, die Ortschaften Berdychi, Orlivka und Tonen'ke komplett zu erobern, ehe der neue Oberkommandierende der Ukraine einen Gegenangriff befahl, der den Feind wieder an die Ränder der zerbombten Ortschaften zurückgedrängt hat. Die Mänover sind dabei essenziell: Ginge Berdychi verloren, müssten die Ukrainer ihre zweite Verteidigungslinie aufgeben und auf eine dritte, besser gelegene ausweichen – nur sind diese rückwärtigen Stellungen teilweise noch gar nicht fertiggestellt, das berichtet "Washington Post". Mitunter bestehen sie allein aus Gräben, ohne die notwendigen Bunker und Unterstände. Die Ukraine braucht nicht nur mehr Munition, sie braucht auch mehr Zeit.
Verschleiß von Elitetruppen
Im Raum von Awdijiwka wurde auch deshalb die 47. Brigade eingesetzt. Eine Eliteformation, die mit US-Schützenpanzern vom Typ Bradley und dem schweren US-Kampfpanzer M1 Abrams ausgerüstet ist. Solche Einheiten gehören zu den besten, die Kiew zur Verfügung stehen. Die Frage bleibt, ob die Gegenstöße ausreichen, um die russische Flut zu brechen – oder ob sie den russischen Vormarsch nur um einige Tage verzögern. In den Gefechten erleiden beide Seiten schwere Verluste, doch wer kann in der Folge frische Kräfte heranführen?
In wenigen Tagen hat die 47. zwei wertvolle Minenräumpanzer auf Basis des M1 Abrams verloren, dazu drei Kampfpanzer M1 Abrams. Gegen sie setzen die Russen FPV-Drohnen ein, die mit dem Gefechtskopf einer Panzerfaust ausgerüstet sind. Das ist ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zum Sommer 2023, als meist Sprengladungen benutzt worden sind, die einen Panzer immobilisieren und hilflos machen können, aber in der Regel keinen Durchschlag in den Kampfraum erzielen. Sowohl Russen als auch Ukrainer pflastern ihre Fahrzeuge mit Reaktivpanzerung, um die Drohnen "abzusprengen". Im Prinzip ist der Schutz bei einzelnen Treffern auch wirksam, er wird aber durch die schiere Menge der Drohnen aufgehoben.
Russen verlagern ihre Angriffe
Während die Fronten bei Robotyne und Awdijiwka derzeit wenig Bewegung zeigen, haben die Russen ihren Angriffsschwerpunkt im Donbass in das Gebiet östlich von Donezk verlagert und erzielen dort Erfolge. Bei Nowomychajliwka haben sie eine südlich gelegene Farm erobert und werden von dort in das Zentrum des Ortes vorrücken. Nördlich davon konnten sie ihre Position bei Pobjeda verbessern. Einige Kilometer weiter gelang es ihnen, die ukrainischen Verteidiger von Heorhiivka aus dem Gebiet der Staubecken vertreiben und sich an den Rändern der Ortschaft festsetzen. Bei Marjinka wurden die Positionen am südlichen Rand von Krasnogorowka eingenommen, auch die wichtige Eisenbahnlinie soll dort überquert worden sein. Etwa vier Kilometer weiter rücken sie in Pervomais'ke vor. Bei Bachmut drängen sie in das Zentrum von Ivanivske vor und arbeiten die ukrainischen Positionen in Tschassiw Jar mit Artillerie und Bomben weiter ab.
Diese Aufzählung klingt nicht nur bedrückend, darin zeigt sich auch die Strategie der Russen. Durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit können die Invasoren weitere "heiße" Kampfzonen aufmachen. Die Kräfte der Ukraine indes sind ohnehin angespannt, immer schwieriger fällt es ihr, Feuerwehreinheiten wie die 47. in den Kampf zu schicken – die dann zwar die Lage stabilisieren, aber eben nicht entschärfen. Zumal zu befürchten steht, dass diese Truppen, wenn sie erstmal entsendet sind, nicht mehr aus den Kämpfen herausgezogen werden können. Der russische Plan zielt darauf ab, alle Kräfte Kiews zu binden und früher oder später selbst einen Durchbruch zu erzielen, den das ukrainische Oberkommando mangels frischer Truppen nicht mehr abriegeln kann.
Russen dominieren den Luftraum
Die Ukraine hat das Problem, dass die Truppen am Boden zwar mutig kämpfen, aber nur von Drohnen unterstützt werden. Und selbst im Bereich der kleinen Drohnen sind sie nicht überlegen, die Russen dominieren den niedrigen und den hohen Luftraum. Die Luftverteidigung der Ukrainer ist so geschwächt, dass die Russen ihre Kampfjets fast unmittelbar an der Front einsetzen können. So sehen sich die Verteidigungseinheiten Drohnen, Artillerie und schweren Gleitbomben gegenüber. Schwerer noch als die Verluste an Panzern wirkt sich aus, dass die Russen die verbleibende, unterstützende Artillerie der Ukrainer ausschalten.
Derzeit ist die russische Feuerkraft erdrückend. Und die Zeiten sind auch vorbei, dass die Russen mit Hunderten von Granaten ein Feld umpflügen mussten, um einen Treffer zu erzielen. Längst treffen die Gleitbomben präziser als noch vor einem Jahr, Kiew weiß darauf keine Antwort. Auch wegen kleinerer Verbesserungen hat sich das Blatt gewendet: Für die 122 Millimeter Steilfeuermörser stehen den Russen nun Granaten zur Verfügung, die vier Kilometer mehr Reichweite erzielen und genauer treffen.
Gefahr eines Durchbruchs
Und so sehen wir Kämpfe, die außerordentlich brutal geraten. Beide Seiten erschießen Gefangene, wie das auch schon früher der Fall war – nur dass die Videos der Gräueltaten heute auf offiziellen Kanälen geteilt werden. Wer nach einem Hoffnungsschimmer sucht: Kiew gelingen, allem Druck zum Trotz, auch Erfolge. So soll die russische Luftwaffe während ihrer Offensive merkliche Verluste erlitten haben, wobei es für die meisten Abschüsse keine Bestätigung gibt. Erneut gelang es den ukrainischen Magura-Seedrohnen, eine russische Korvette zu versenken. Die Schwarmattacken der Wasserdrohnen sind ein Desaster für die russische Marine. Doch damit wird die Front am Boden nicht gehalten.
Der österreichische Oberst Reisner warnt: "Die Gefahr eines russischen Durchbruchs ist massiv." Er sieht einen Dominoeffekt. Die weiteren Verteidigungslinien Kiews sind wegen des fehlenden Budgets nicht komplett ausgebaut, bei einem Rückzug müssten sie von den weichenden Truppen gehalten werden. Scheitert das Vorhaben, könnten ganze Abschnitte der Front kollabieren und erst weit zurück am Dnipro wieder werden. Der Fluss teilt die Ukraine. Gelangen die russischen Truppen ans östliche Fussufer, dürfte Putin seine territorialen Kriegsziele mit Ausnahme von Odessa erreicht haben.